Wie kann eine linke Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk aussehen?
RBB-Skandal Konservative, Rechte und Marktliberale nutzen den Skandal um RBB-Intendantin Patricia Schlesinger für ihre Zwecke. Eher linke Ansätze von Kritik gehen im Polarisierungsnebel unter. Ein paar Vorschläge
Tiefgründige Gespräche gibt es in der Primetime von ARD und ZDF eher selten
Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images
Die Situation ist typisch: Eine öffentlich-rechtliche Anstalt, der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), steckt bis zum Hals in einer Krise – und vor allem die nicht linken Parteien versuchen, Kapital daraus zu schlagen. Die AfD sowieso. Aber auch die FDP und vor allem die CDU nutzen die Lage, um die Öffentlich-Rechtlichen in ihrem derzeitigen Umfang infrage zu stellen.
Unter anderem „Konzentration auf den Informationsauftrag“ und „Ausgewogenheit herstellen“ verlangt etwa die CDU angesichts der RBB-Krise, die als „Schlesinger-Affäre“ begann. Beides hat zwar mit dieser Affäre, in der es um Mitnahmeeffekte, nepotistische Allianzen und ausgehärtete Hierarchien geht, wenig zu tun. Aber weil es konservative, marktliberale und sehr r
und sehr rechte Wählerschaften gibt, die einen Monatsbeitrag lieber in eine weitere Fünftel-Tankfüllung investieren würden als in gemeinwohlorientierte Medien, nehmen ihre politischen Vertreter:innen jede Gelegenheit wahr, Fusions- oder Abschaffungsfantasien zu ventilieren.Egal, ob ein Kinderchor ein harmloses Lied singt, in dem das Wort „Umweltsau“ vorkommt; ob eine ZDF-Moderatorin die CSU für den Gebrauch rechtspopulistischer Begriffe wie „Asyltourismus“ kritisiert; ob ein WDR-Mann beim Versuch, inklusiv zu formulieren, versehentlich von der „Krankenschwesterin“ spricht; oder ob, wie jetzt, eine Anstaltsleitung sehr großzügig sich selbst und ihrem Netzwerk gegenüber ist: Alles wird Skandal. Egal, ob ein Missstand wirklich groß ist oder ob irgendein Quatsch aufgeblasen wird: Immer geht es sofort ums Ganze.Linke Ansätze von Kritik am ÖRR gehen im Polarisierungsnebel unterJede auch nur vermeintliche Entgleisung wird in Beitragsmilliarden umgerechnet. ARD und ZDF werden mit dem billigeren Netflix verglichen, als würde ein Streamingdienst auch nur einen Bruchteil der Aufgaben der Öffentlich-Rechtlichen erfüllen. Nicht repräsentative Wahlumfragen unter der Hälfte der ARD-Volontäre, einzelne Programmschnipsel, Tweets von ARD-Journalist:innen, selbst die Berufe der Mörder im Tatort: Jeder Strohhalm wird ergriffen, um dem ganzen öffentlich-rechtlichen System „Erziehungsjournalismus“ oder „Einseitigkeit“ vorzuwerfen.Erst dieser Tage zog die Bild-Zeitung die ARD am Nasenring durch die Manege und behauptete: „ARD zeigt keine Winnetou-Filme mehr“. Der Vorwurf stand in einem Sinnzusammenhang mit der an sich schon überdrehten Diskussion um ein von einem Verlag zurückgezogenes neues Winnetou-Kinderbuch. Nun wurde der „Cancel Culture“-Vorwurf also auch der ARD gemacht, völlig anlasslos: Denn dass sie die Filme nicht mehr zeigt, stimmt zwar – aber nur deshalb, weil sie die Rechte vor zwei Jahren ans ZDF weiterreichte, wo sie sehr wohl laufen. Wenn’s dem Rundfunk schadet, scheint kein Argument unredlich genug zu sein.Wie links aber kann ein Rundfunksystem sein, das Adligen-Soaps, Klatsch-Nachmittagsmagazinen und Börsianern täglich prominente Bühnen bietet, aber kein ähnlich prominentes Klimaformat hinbekommt? Das konservativen Kabarettisten und nicht gendernden Talkern sehr gute Programmplätze überlässt? Das zur Primetime in den Schaufenstersendern eskapistische Schmunzelkrimis zeigt und manchmal was mit Tieren, aber keine Dokumentation zu sozialpolitischen Themen? Dessen Fußballkommentatoren beim ersten Bengalo in einem Stadion von Fankrawallen sprechen, während sie ehrfürchtig das Mikro vor jede Sportmillionärsnase halten?Was mit der unentwegten Skandalisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als vermeintlich linke ideologische Veranstaltung allerdings bereits erreicht wurde, ist eine Verzweiseitigung der Debatte. Entweder man attackiert den ÖRR grundsätzlich: Dann ist man mutmaßlich auch gegen eine Erbschaftssteuer, gegen fleischloses Essen und für den Verbrenner und betrachtet das generische Maskulinum als Ende der Sprachgeschichte. Oder man verteidigt den ÖRR grundsätzlich, weil jede Diskussion darüber sofort in die Systemfrage abgleitet und den Rechten zu nutzen droht.Eher linke Ansätze von Kritik gehen im Polarisierungsnebel unter. Die Frage ist zum Beispiel nicht, ob es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk braucht. Natürlich braucht es ihn, und es braucht ihn nicht zentralisiert oder verknappt, sondern in möglichst vielen Facetten. Sondern wie es um seine Gemeinwohlorientierung eigentlich tatsächlich bestellt ist.ARD-Programm für alleDie Affäre um die mittlerweile entlassene RBB-Intendantin Patricia Schlesinger wirkt in dieser Hinsicht alarmierend, weil sich von der Idee des öffentlich-rechtlichen Solidarmodells in der Hausorganisation nicht viel niederzuschlagen schien. Nicht nur wurde das Salär der Intendantin deutlich erhöht, während der RBB an Personalkosten zu sparen hatte. Für höherrangige Mitarbeiter gab es auch Boni für das Erreichen von Sparzielen, und gekürzt wurden etwa Mitarbeiter. Die Außendarstellung war: Es wird bis zur Schmerzgrenze gespart, gespart, gespart, es müsse also auch „Einschnitte im Programm“ geben (Schlesinger 2020). Aber innen herrschte offensichtlich ein hierarchisches CEO-Gehabe. Ober sticht Unter – das ist der soziale Kern dieses Skandals: dass es beim RBB offenbar zuging wie in einem stinknormalen privaten Konzern.Bedenklich ist also nicht, dass eine ARD-Anstalt kein stinknormaler privater Konzern ist, der sich genauso am Markt behaupten muss wie private Medien. (Im Gegenteil: Die Öffentlich-Rechtlichen sind auch deshalb so wichtig, weil großer wirtschaftlicher Druck ein dauerhaftes und verlässliches Inhaltsangebot gefährden würde.) Bedenklich ist vielmehr, dass im RBB-Fall eine ARD-Anstalt Allüren beförderte, wie man sie aus der Privatwirtschaft kennt.An der gemeinschaftlichen Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks über ein Solidarmodell gibt es also nichts zu kritisieren, auch wenn die Beitragshöhe stärker nach Einkommen gestaffelt sein könnte. Aber das Solidarmodell muss auch in eine Ethik des öffentlich-rechtlichen Handelns übersetzt werden. Dass nun unter anderem über eine Reform der Kontrollgremien debattiert wird und überall die Forderung nach Transparenz fällt, ist folgerichtig. Dass alle Rundfunkanstalten unter Druck stehen, wo doch Praktiken des RBB wie die besagte Bonusregelung nirgends sonst existiert zu haben scheinen, ist der Kollateralschaden des Skandals. Andererseits gibt es ja einen übergreifenden Reformbedarf, den nicht erst die RBB-Krise ausgelöst hat. Wenn man jetzt nicht über die Organisation der Anstalten und die öffentlich-rechtliche Kultur des Geldausgebens diskutiert – wann dann?Die Frage, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk öffentlich-rechtlich genug ist, beschränkt sich aber nicht auf Organisationsstrukturen. Im Kern geht es um die Frage, ob er es schafft, Programm für alle zu machen. Und welches. Wovon es zu viel gibt, wovon zu wenig. Und in welchen Währungen man das messen kann.Zu konstatieren ist, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen allzu bereitwillig auf die Währungen des Markts verlassen. Was gut nachgefragt wird, davon gibt es mehr; was nicht so gut angenommen wird, hat es schwer. Kochshow, Trödelshow, Krimiserie, Boulevardmagazin, Boulevardmagazin, Krimiserie, Ratgeber: Das ist das von Nachrichtensendungen unterbrochene Programm an einem üblichen Nachmittag im ZDF. Und tags darauf läuft fast dasselbe noch mal (nur dass statt des Ratgebers eine weitere Krimiserie gezeigt wird). Es gibt Abende, an denen um 20.15 Uhr gleichzeitig TV-Krimis in ARD und ZDF gesendet werden.Schraubt mehr Spitzen reinKlar, die Öffentlich-Rechtlichen haben das größte Korrespondentennetz. Wer durchgehend das öffentlich-rechtliche Deutschlandradio hört, bekommt viel von der Welt mit. Auf eine halbwegs gelungene Privatsender-Dokumentation kommen geschätzt zwanzig halbwegs gelungene öffentlich-rechtliche. Das gehört alles zu diesem „Programm für alle“.Aber wer gerne ein vertieftes Einzelgespräch ohne Beteiligung von Markus Lanz sähe; eine Diskussion, die nicht auf die Zuspitzung von Positionen hinauswill, sondern auf besseres Verstehen; einen Dokumentarfilm, der keine Formatdoku ist; eine Korrespondentinnenreportage aus Kamerun, gerne ohne Bezug zur Nachrichtenlage; oder eine originelle Show, deren Familientauglichkeit nicht schon vor Jahrzehnten erprobt wurde: Der wird auf den prominenten Programmschienen von ARD und ZDF – sagen wir: vor 23 Uhr – bestenfalls in Ausnahmefällen fündig.Das bedeutet nun nicht, dass die Öffentlich-Rechtlichen ein Fernsehen für die Bessergebildeten machen sollten. Sie erreichen auch kaum Menschen mit formal niedriger Bildung, wie das Reuters-Institut für Journalismusforschung an der Uni Oxford 2019 zeigte. Es bedeutet, dass die Vielseitigkeit, der Facettenreichtum extrem ausbaufähig sind. Und Vielseitigkeit – darum geht es doch, wenn alle Haushalte den öffentlich-rechtlichen Rundfunk finanzieren.Wie sehr sich die Marktorientierung auf Inhalte niederschlägt, dafür sind die Reformen mancher ARD-Hörfunkwellen ein Beispiel. Vor Kurzem hat die Programmchefin des öffentlich-rechtlichen SWR, Mira Seidel, in einem Interview mit dem Branchendienst DWDL gesagt, dass man „gefälliger werden“ müsse, „weil wir mit der musikalischen Vielfalt niemanden so richtig zufriedenstellen“. Man werde tagsüber „die Spitzen und Kanten aus der Musik herausnehmen“ und so „mehr Mainstream und dadurch eine höhere Durchhörbarkeit“ zu erreichen versuchen.Wenn jemand nicht auf dem Schirm hat, was mit der zu großen Marktorientierung der Öffentlich-Rechtlichen gemeint sein könnte: Das ist gemeint. „Durchhörbarkeit“ ist eine Idee aus dem Privatfunk, die auf die Optimierung des Programms für Werbezielgruppen zielt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss aber Programm für wirklich alle machen wollen – also auch und gerade für die, die Minderheiteninteressen haben und nicht werberelevant sind. Er müsste, statt die Spitzen und Kanten aus dem Programm zu nehmen, zusätzliche hineinschrauben. Eine gute Nachricht für die Öffentlich-Rechtlichen ist: Der Markt wird’s jedenfalls nicht regeln.Placeholder authorbio-1