So groß ist die Welt

Medientagebuch Der Aktivist Raúl Krauthausen hat für seine Talkshow „face to face“ den Grimme Online Award erhalten. Gäste mit und ohne Behinderung reden hier über Arbeit und Leben
Ausgabe 26/2018

„Gutes Fernsehen“, sagte Roger Willemsen einmal, als er seine eigene Karriere als Fernsehmoderator bereits beendet hatte, „setzt die Gesellschaft in den sehr disparaten Gruppen miteinander in Verbindung. Und so erfahre ich über das Fernsehen, wie groß die Welt ist.“ Ob es diese Art von Fernsehen in Deutschland gebe, wurde er gefragt. Willemsen: „Es gibt sie, aber man muss sie suchen.“

Man muss sogar eine Weile suchen, aber irgendwann findet man eine kleine Talkshow mit Raúl Krauthausen namens face to face, die aus medienpolitischen Gründen im Programm des Sportsenders Sport1 läuft. Fünf Mal im Jahr wird sie samstagmorgens ausgestrahlt, dazu kommen ein paar Wiederholungen. Krauthausen, 37, ist einer der bekanntesten Inklusionsaktivisten des Landes. Er hat die Denkfabrik „Sozialhelden“ mitgegründet, die „Wheelmap“ erfunden, auf der barrierefreie Orte eingetragen sind; er hat 3-D-druckbare Minirampen für Bordsteine entworfen, und von ihm kommt die Idee, Pfandbons im Supermarkt zu spenden. Das alles ist eingebunden in mediale Aktivitäten, für die er soeben einen Grimme Online Award gewonnen hat.

In seinem Talk, der auch im Netz verfügbar ist, spricht er jeweils mit nur einem Gast, etwa mit der Poetry-Slam-Organisatorin Ninia LaGrande, dem Künstler Shahak Shapira, mit der Autorin Denise Linke, die ein Magazin unter anderem für Autisten herausgibt, oder dem ehemaligen Rollstuhlbasketballer Tan Çağlar. Mit Gästen, die nur eines verbindet: Es sind, so steht es auf der Website der Sendung, „Persönlichkeiten mit und ohne Behinderung“. Das ist weniger banal, als es klingt. Eine Behinderung wird den Gästen hier eben nicht auf die Visitenkarte geschrieben. Sie wird nicht positiv, nicht negativ stilisiert, sie gehört gegebenenfalls dazu, fertig. Einmal sagt ein Gast, der Schriftsteller und Regisseur Maximilian Dorner, es werde „so viel geplappert“ in den Medien, „aber über die ganz zentralen Themen jedes Lebens wird oft nicht gesprochen“.

Statt in den Rollen als Opfer oder als paralympische Helden, die ihnen bisweilen übergestülpt werden, damit sie fürs Fernsehen „erzählbar“ werden, reden hier Menschen über Arbeit und Leben. Vermeintliche Andersheit wird darüber schlicht zur Unterschiedlichkeit. Krauthausens Programm steckt andeutungsweise in einem Witz, den er im Juni erzählte, als der Schauspieler Christian Ulmen zu Gast war: „Was ist ein Schwarzer im Cockpit?“ Ulmen formuliert ein Fragezeichen. Krauthausen: „Ein Pilot, du Nazi.“

Seine Fernsehkarriere begann 1997 mit einem Auftritt bei Willemsens Woche, wo er, als 17-Jähriger mit Glasknochen, über seine These sprach, „dass es keinen behinderten Fernsehmoderator in Deutschland gibt“, weil die Sender einen Quoteneinbruch fürchten würden, „wenn ein Behinderter auf dem Schirm erscheint“. Schon deshalb ist es schön, dass er 20 Jahre später diese Sendung macht, auch wenn sie keine große Öffentlichkeit hat. Er versucht, Gespräche zu führen, wie sie Roger Willemsen vormachte, als er noch nicht von einem Fernsehen genervt war, das auf die unterstellten Lebenserfahrungen und Normalitätsannahmen der angenommenen Mehrheit fixiert ist.

Man muss face to face nicht perfekt finden – die Talkshow ist zum Beispiel zu kurz für tief gehende Gespräche –, um sagen zu können, dass sie wertvoll ist: Krauthausen lässt dem Elefanten, der mit im Raum ist, wenn zum Beispiel jemand mit Glasknochen hereinkommt, einfach die Luft ab.

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