Warum auch seriöse Medien falsch informieren

Boston-Attentat Jede Information bringt mehr Follower und Reichweite. Ökonomisch mag das Update-Dauerfeuer sinnvoll erscheinen, journalistisch entspricht es der Verteilung von Junkfood
Ausgabe 16/2013
Warum auch seriöse Medien falsch informieren

Foto: dpa

Die Radiomoderatorin Kerri Miller aus Minnesota twitterte am Montag, sie habe 1995 über den Bombenanschlag in Oklahoma berichtet. Erst, schrieb sie, habe es sich dabei um eine Gasexplosion gehandelt, dann um einen Anschlag ausländischer Terroristen. „Sie wissen, wie die Geschichte ausging“ – der Attentäter war US-Bürger.

Es gab eine Reihe von Journalisten, die solche sachten Warnungen verbreiteten, nachdem in Boston während des Marathons Bomben explodiert waren; als Twitter heiß lief, um binnen 13 Stunden knapp zehn Millionen Tweets mit den Hashtags #boston und #bostonmarathon auszuspucken. „Das meiste, was Sie jetzt hören, wird sich als falsch herausstellen“, twitterte etwa ein Korrespondent von The Atlantic. Denn so schnell sich auch Informationen zusammentragen und Notrufnummern verbreiten lassen, so groß sind die Defizite jedes sozialen Netzdienstes: So unmittelbar wie gute werden auch schlechte Quellen gleichwertig in den Nachrichtenstrom eingespeist.

Man konnte daher bei allen live berichtenden Medien ein Spekulationsspektakel beobachten. Der Boston Globe korrigierte die Zahl der Verletzten am Montag in 24 Minuten von 46 auf 100 auf mindestens 90 auf 64, um am Ende des Tages bei etwa 130 zu landen. Und man kann den Globe guten Gewissens zu den wichtigen journalistischen Quellen zählen.

Warum das Rechercherohmaterial fortwährend veröffentlicht wird, liegt auf der Hand: weil es veröffentlicht werden kann, weil es gelesen wird und weil das Update-Dauerfeuer ökonomisch sinnvoll scheint. Nicht jede richtige, sondern jede Information bringt kurzfristig mehr Follower und Reichweite. Nicht nur die Vorzüge, auch die Mängel der sozialen Netzwerke – die Fehlschlüsse, der unsortierte Informationsmüll – werden zur Grundlage des Geschäfts. Twitter zeigt, wie News entstehen. Aber Twitter ökonomisiert den Newsprozess auch weiter. „Wir hatten eine Information zuerst, und morgen haben wir dann andere“ ist wichtiger als „Wir haben Informationen, die auch morgen noch stimmen“.

Andererseits ließ sich am Fall der Boston-Berichterstattung beobachten, dass es „die Medien“ nicht gibt. Womöglich hat sich seit dem Amoklauf in Newtown im Dezember etwas verändert: Damals stand der Bruder des Täters bereits weltweit als Täter fest, bevor man merkte, dass man da den Falschen mit Namen und Foto gezeigt hatte. Eine kollektive Fehlleistung, die auf der Wahl der falschen Form basierte: Wer einen Liveticker im Programm hat, muss ihn auch füllen, und dann schreibt man notfalls, was alle schreiben. Wenn man von Newtown eines lernen konnte, dann, dass Echtzeitberichterstattung über abgeschlossene Ereignisse und ihre Vorgeschichte – Bombenanschläge gehören dazu – journalistisch bestenfalls der Verteilung von Junkfood entspricht.

Im Bostoner Fall nun gab es neben jenen Medien, die in Echtzeit berichteten, auch Onlinemedien, die sich zurückhielten, obwohl sie damit Reichweite verschenkt haben dürften. Es lässt sich erahnen, dass sich die Medienlandschaft nach und nach so aufsplittet, wie es die Verteidiger der gedruckten Zeitung seit Jahren prophezeien: Es gibt abwägende, einordnende und es gibt emotionsheischende Medien. Nur sind sie eben nicht in Print und Online zu trennen. Sondern in Vorsicht und Vollgas.

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