"Was hat er an?"

Dramolett Am Samstag feiert "Wetten, dass..?" seinen 30. Geburtstag. Die Show ist ein Familienritual, die Quoten sind nach wie vor enorm. Warum? Einblicke in ein Wohnzimmer

Es ist Samstag, und Samstag ist Familientag, immer noch. Familientag bedeutet: Man isst gemeinsam zu Abend, wenn man sich sonst schon kaum sieht, gleich nach dem letzten Spiel in der Sportschau. Um 19.50 Uhr gibt es Aufschnitt, dreierlei Käse, Graubrot und grünen Salat mit Ziegekäse und Tomaten. Das Familienleben ist intakt. Die Tochter ist 20, Sohn 18, die Pubertäten sind beinahe abgehakt, Eltern und Kinder verstehen sich soweit ganz gut – es dauert jedenfalls mehr als 20 Minuten, bis die Gesprächsthemen ausgehen.

Es ist ein Quotenhaushalt. Es gibt etwa 5.600 Haushalte in Deutschland, die ihren Fernsehkonsum messen lassen. Was sie sehen, ist die Grundlage für die Berechnung der Fernsehquoten. Jede Umschaltbewegung wird registriert, jede Person, die vor dem Fernseher sitzt, wird einzeln gezählt. Der Vater nimmt das ernst. Er ist als erster fertig, geht vom Ess- ins Wohnzimmer und meldet vier Zuschauer an. Der Rest der Familie räumt den Tisch ab.

Vater: Es geht los.

Mutter: Was?

Vater: Dings.

Mutter: (erkennt die Titelmelodie von Wetten, dass..?) Was kommt'n sonst noch?

Keine Reaktion aus dem Wohnzimmer.

Tochter: Was hat er an?

Vater: Wer?

Tochter: Der Gottschalk.

Vater: Wieso?

Sohn: Wie wieso?

Tochter:(rollt mit den Augen, kommt aus dem Esszimmer ins Wohnzimmer und schaut in den Fernseher) Purpurne Barockjacke, Rüschenhemd, geißblattpinke Karottenhose, lila Cowboystiefel.

Sohn: Freak. (Er geht auch ins Wohnzimmer.)

Mutter räumt noch die Spülmaschine ein. Vater, Sohn und Tochter sitzen vor dem Fernseher. Gottschalk, im Fernseher, spricht begeistert über Volksschauspieler: "Es gibt sie ja kaum noch heutzutage. Die Kids lieben Hollywood, und die…". Während er spricht, nimmt der Sohn die Fernbedienung und würgt ihn ab. Er schaltet zu RTL, wo Deutschland sucht den Superstar läuft.

Sohn: Ich schalt ma' kurz um.

Vater: Nee, also echt nicht (greift nach der Fernbedienung, Sohn zieht sie weg).

Sohn: Lass' ma' ganz kurz.

Vater: brummt.

RTL: Dieter Bohlen und zwei andere Leute sitzen vor einer Strandkulisse. Es geht um den Druck, der auf den Malediven auf den verbliebenen Teilnehmern der Castingshow laste. Schnitt. Zwei junge Frauen, die sich auf ihren Auftritt vor der Jury vorbereiten. Die Mutter kommt ins Wohnzimmer und setzt sich auf ihren Platz.

Sohn: Mann, sind die hohl.

Mutter: Kommt nix anderes?

Sohn: Nee.

Tochter: Doch.

Sie schaltet zurück zu Wetten, dass..?. Gottschalk begrüßt gerade seine Ko-Moderatorin, Michelle Hunziker.

Vater: Um Gottes willen.

Mutter: Mich nervt die.

Tochter: Mich auch.

Vater: Kann man ja gleich RTL gucken.

Sohn: Eben.

Vater: Das Dschungelcamp schau'n wir bitte nicht (stampft sacht mit dem Fuß auf).

Sohn: Das is' DSDS.

Vater: Da nervt mich schon der Name.

Mutter: Gerd, nicht schon wieder.

Kurzes Schweigen.

Vater: Die Bahn hat einen Service-Point! Da lachste dich kaputt.

Schweigen. Man schaut jetzt konzentriert fern. Mutter blättert in einer Zeitschrift, ein Handy piepst. Der Sohn greift in die Hosentasche. Gottschalk begrüßt den ersten Gast. Schauspieler, deutsch.

Tochter: Hat der schon wieder was Neues?

Sohn: Keinohrhasen, Teil 45.

Mutter: Ach, der ist das.

Vater: Ich hol ma' was zum Knabbern.

Er steht auf, geht zum Wohnzimmerschrank und legt eine Tüte mit Erdnussflips auf den Tisch. Er reißt die Tüte auf, Flips kullern über den Tisch. Der Sohn schaut erwartungsfroh zur Mutter. Schimpft sie, schimpft sie nicht? Sie rollt mit den Augen, sagt aber nichts. Der Sohn wendet sich wieder dem Fernseher zu.

Sohn: (zu seiner Schwester) Wo geht'n ihr hin heute?

Tochter: In die Mambo.

Mutter: Geht ihr noch aus?

Tochter: Ja, schon.

Sohn: Ich komm' mit.

Keine Antwort.

Sohn: Okay?

Tochter:stöhnt.

Fernsehen. Der erste Show-Act. Udo Lindenberg singt was aus einem Musical. Nach zwei Minuten steht die Tochter auf.

Tochter: Ich zieh' mich ma' um.

Vater: Gehst du noch aus?

Keine Reaktion. Tochter ab.

Vater: (zur Mutter) Geht sie noch aus?

Mutter: Glaub' schon.

Vater:(zum Sohn) Geht sie noch aus?

Sohn: Hm.

Schweigen.

Vater: Du auch?

Sohn:(schaut vom Handy auf) Hm.

Vater: brummt.

Er greift in die Tüte, ein paar Erdnussflips fallen auf den Boden.

Mutter: Mensch, Gerd.

Vater: Muss ich euch dann jetzt wieder abmelden?

Mutter: Wieso?

Vater: Von der Quotenmessung.

Mutter: Das blöde Ding.

Sohn: Lass' laufen, is' doch wurscht.

Wenig später steht er auf und geht aus dem Raum.

Vater: Ich wollt' mich ja noch rasieren.

Mutter: Jetzt?

Der Vater steht grunzend auf und verlässt den Raum. Die Mutter blättert noch in der Zeitschrift. 4:13 Minuten lang, für die Dauer der Bierdeckelwette, dann geht sie auch.

Es ist 20.53 Uhr, das Wohnzimmer ist leer. Im Fernseher läuft Wetten, dass..?, die größte Fernsehshow Europas. Konsens­fernsehen. Die Quoten sind an diesem Abend wieder enorm, knappe neuneinhalb Millionen. Bei der jungen Zielgruppe ist nur DSDS besser.

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