Wer hat versucht, den Relotius umzuschreiben?

Wikipedia Das Bild des Skandaljournalisten wurde online offenbar geschönt. Nun wundert einen wirklich gar nichts mehr
Ausgabe 46/2019
„Sagen, was ist“ – der Leitspruch des Spiegels nahm vergangenes Jahr beträchtlichen Schaden
„Sagen, was ist“ – der Leitspruch des Spiegels nahm vergangenes Jahr beträchtlichen Schaden

Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

Dem Wikipedia-Eintrag über den ehemaligen Journalisten Claas Relotius ist vor Kurzem ein neues Kapitel hinzugefügt worden. Es wird in der Gliederung des Lexikonartikels derzeit unter Punkt 7 geführt und heißt „Manipulationsversuche des Wikipedia-Artikels“. An dieser Stelle handelt der Wikipedia-Eintrag über Relotius also kurz mal von sich selbst. Warum auch nicht? Man wartet nun eigentlich nur noch darauf, dass ein Medienanwalt behauptet, der Manipulationsversuch sei selbst eine Fälschung.

Tatsächlich wurde – so berichtete nun der Tages-Anzeiger, und so kann man es bei Wikipedia auch ohne Administratorrechte zumindest zum Teil nachvollziehen – Relotius’ Lexikoneintrag wohl im großen Stil verändert, bevor die Änderungen wieder rückgängig gemacht wurden. Das Bild des Mannes, der für seine Reportagen viele Preise bekommen hat, bevor im Dezember 2018 herauskam, dass er viele seiner Texte ganz oder teilweise erfunden hatte, wurde dort zu seinen Gunsten umgeschrieben.

Dass er ein „Karl May unserer Tage“ sei, war dort zum Beispiel zu lesen. Einer der Nutzer, die die Änderungen vornahmen, „PreRap“, bemühte sich auch, andere Wikipedianer davon zu überzeugen, den Lexikoneintrag über die Person Relotius von einem Eintrag zu trennen, der die Relotius-Affäre behandelt. Letzterer sei ohnehin eigentlich ein „Fall Spiegel“. Es wurde gelöscht, gekürzt, beschönigt, relativiert. Es wurden sogar Quellen erfunden. Eine der Sockenpuppen, die unter dem Namen „Snapperl“ in den Eintrag eingriff, baute, um einen nicht vorhandenen Beleg für eine Behauptung vorweisen zu können, etwa eine Medienseite der Welt nach und füllte sie mit einem Text, der in Wirklichkeit nie in der Welt erschienen ist.

Am 22. September wurde User „Snapperl“ dann allerdings enttarnt. „Ich frage mich, welche Interessen du mit deinen Änderungen verfolgst. Persönliche vielleicht? So wirkt es fast“, wurde er von einem anderen Wikipedianer konfrontiert. „Du bist vielleicht nicht Claas Relotius (wie du selbst schreibst). Aber du arbeitest jedenfalls genauso manipulativ wie er. Das geht nur mit Vorsatz, also mit Wissen und Wollen.“ Da wollten sich ein paar konsequente Freizeitfaktenchecker doch partout nicht übertölpeln lassen.

Wer hinter der „Aktion zur Rettung der Ehre“ von Relotius steckt, wie der Tages-Anzeiger sie nennt, ist bislang nicht erwiesen. Zu lesen ist, mehrere der Accounts seien von ein und demselben Computer gesteuert worden. Und natürlich sieht das alles nun exakt danach aus, wonach es eben aussieht – auch deshalb, weil eine IP-Adresse auf die engere norddeutsche Umgebung hindeutet, in der Relotius der Quellenlage nach aufgewachsen ist. Aber weiß man’s?

Man sollte vorsichtig sein mit den Urteilen, solange die Faktenlage nicht geklärt ist. Theoretisch könnte es auch sein, dass ein paar Studierende der Medienwissenschaften an einem Mittwoch in ihrer WG in Seevetal zusammensaßen, südlich von Hamburg zwischen Winsen an der Luhe, Marxen, Appel und Neu Wulmstorf gelegen, und bei Kartoffelsalat und Gin Tonic beschlossen, die „Operation Winnetou“ anzustoßen – um so ein weiteres Mal spaßeshalber den Nachweis zu führen, dass die Welt ziemlich täuschungsanfällig ist: dass man eine Geschichte umdrehen, umframen, umplotten, umcodieren, ganz anders erzählen kann, als sie bis dato erzählt wurde.

Theoretisch könnte es tatsächlich genau so gewesen sein. Falls aber jemals jemand eine Quelle dafür präsentieren sollte, dass diese „Operation Winnetou“ wirklich existiert hat: Dann böte es sich dringend an, sich diese Quelle einmal etwas genauer anzuschauen.

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