Dem Wikipedia-Eintrag über den ehemaligen Journalisten Claas Relotius ist vor Kurzem ein neues Kapitel hinzugefügt worden. Es wird in der Gliederung des Lexikonartikels derzeit unter Punkt 7 geführt und heißt „Manipulationsversuche des Wikipedia-Artikels“. An dieser Stelle handelt der Wikipedia-Eintrag über Relotius also kurz mal von sich selbst. Warum auch nicht? Man wartet nun eigentlich nur noch darauf, dass ein Medienanwalt behauptet, der Manipulationsversuch sei selbst eine Fälschung.
Tatsächlich wurde – so berichtete nun der Tages-Anzeiger, und so kann man es bei Wikipedia auch ohne Administratorrechte zumindest zum Teil nachvollziehen – Relotius’ Lexikoneintrag wohl im großen Stil verändert, bevor die Änderungen wieder rückgängig gemacht wurden. Das Bild des Mannes, der für seine Reportagen viele Preise bekommen hat, bevor im Dezember 2018 herauskam, dass er viele seiner Texte ganz oder teilweise erfunden hatte, wurde dort zu seinen Gunsten umgeschrieben.
Dass er ein „Karl May unserer Tage“ sei, war dort zum Beispiel zu lesen. Einer der Nutzer, die die Änderungen vornahmen, „PreRap“, bemühte sich auch, andere Wikipedianer davon zu überzeugen, den Lexikoneintrag über die Person Relotius von einem Eintrag zu trennen, der die Relotius-Affäre behandelt. Letzterer sei ohnehin eigentlich ein „Fall Spiegel“. Es wurde gelöscht, gekürzt, beschönigt, relativiert. Es wurden sogar Quellen erfunden. Eine der Sockenpuppen, die unter dem Namen „Snapperl“ in den Eintrag eingriff, baute, um einen nicht vorhandenen Beleg für eine Behauptung vorweisen zu können, etwa eine Medienseite der Welt nach und füllte sie mit einem Text, der in Wirklichkeit nie in der Welt erschienen ist.
Am 22. September wurde User „Snapperl“ dann allerdings enttarnt. „Ich frage mich, welche Interessen du mit deinen Änderungen verfolgst. Persönliche vielleicht? So wirkt es fast“, wurde er von einem anderen Wikipedianer konfrontiert. „Du bist vielleicht nicht Claas Relotius (wie du selbst schreibst). Aber du arbeitest jedenfalls genauso manipulativ wie er. Das geht nur mit Vorsatz, also mit Wissen und Wollen.“ Da wollten sich ein paar konsequente Freizeitfaktenchecker doch partout nicht übertölpeln lassen.
Wer hinter der „Aktion zur Rettung der Ehre“ von Relotius steckt, wie der Tages-Anzeiger sie nennt, ist bislang nicht erwiesen. Zu lesen ist, mehrere der Accounts seien von ein und demselben Computer gesteuert worden. Und natürlich sieht das alles nun exakt danach aus, wonach es eben aussieht – auch deshalb, weil eine IP-Adresse auf die engere norddeutsche Umgebung hindeutet, in der Relotius der Quellenlage nach aufgewachsen ist. Aber weiß man’s?
Man sollte vorsichtig sein mit den Urteilen, solange die Faktenlage nicht geklärt ist. Theoretisch könnte es auch sein, dass ein paar Studierende der Medienwissenschaften an einem Mittwoch in ihrer WG in Seevetal zusammensaßen, südlich von Hamburg zwischen Winsen an der Luhe, Marxen, Appel und Neu Wulmstorf gelegen, und bei Kartoffelsalat und Gin Tonic beschlossen, die „Operation Winnetou“ anzustoßen – um so ein weiteres Mal spaßeshalber den Nachweis zu führen, dass die Welt ziemlich täuschungsanfällig ist: dass man eine Geschichte umdrehen, umframen, umplotten, umcodieren, ganz anders erzählen kann, als sie bis dato erzählt wurde.
Theoretisch könnte es tatsächlich genau so gewesen sein. Falls aber jemals jemand eine Quelle dafür präsentieren sollte, dass diese „Operation Winnetou“ wirklich existiert hat: Dann böte es sich dringend an, sich diese Quelle einmal etwas genauer anzuschauen.
Kommentare 6
die kraft zur erkenntnis von manipulationen; sie lebe hoch!
Mir hat der Artikel auch gut gefallen. Vermutlich besteht das noch größere Problem aber darin, dass wir gerade erst dabei sind zu reflektieren, dass ein großer Teil unserer Alltags-Narrative auf Klischees und Stereotypen beruhen. Das durchzieht wirklich alle Lebensbereiche, so dass die Frage nach Lüge und Betrug, Manipulation und Normalität immer schwieriger zu werden scheint.
Offensichtliche Lügen und Manipulationsversuche kann man noch ganz gut erkennen, aber was ist mit dem was man „eben so weiß“ und was oft nur zeittypischen Artigkeiten und Richtigkeiten folgt, ohne zu merken, dass man es tut. Was man so, über Indianer, Piraten und Ritter 'weiß', weiß man aus Spielfilmen, wann auch immer man sich in Bekanntheiten tiefer einarbeitet, stellt sich heraus, dass hier nicht nur ein paar Details neu verstanden werden müssen.
Der artige Versuch das alles in Richtung basaler Fakten aufzulösen, von denen es heißt, sie seien für alle gleich, erweist sich ebenfalls als blinder Pfad.
ja, wissens-manipulation ist ein spezial-fall
von propaganda/meinungs-erzeugung.
flecks wissenschafts-soziologie ein teil der-->wissens-soziologie.
zur grundlegung dieser (und wegen der guten lesbarkeit)
empfehle ich die klassiker von berger/luckmann.
Danke. An irgendwas muss man allerdings anknüpfen, sozusagen eine Notgeburt.
Ärgerliche Story im Bedenkenträger-Gewand – die das Hauptgefühl hinterlässt, dass der Autor einerseits Relotius rehablitieren, andererseits dieses Motiv jedoch unbedingt vor den Beitragsleser(inne)n verbergen möchte. Weswegen er zum Schluss sein Heil in ziemlich aufgesetzt daherkommenden Haarspaltereien sucht.
Nett formuliert: Unklar ist, was dieser Artikel eigentlich will. Die beschriebene Geschichte ist wikipediatechnisch wie aus dem Schulbuch verlaufen. Die WP-Einträge zu Relotius sowie der gleichnamigen Affaire wurden massiv geschönt respektive frisiert – unter anderem durch inhaltliche Tricks, hochtrabende Vergleiche sowie gefälschte Screenhots. Schlecht, sicher. Im konkreten Fall jedoch folgt das Happy End relativ umgehend: Die im Wesentlichen von zwei Einzweck-Konten ausgehenden Manipulationen wurden entdeckt, in der Folge rückgängig gemacht und die bösen Buben gesperrt. Wikipedia ging sogar – eine Verhaltensweise, die Interna betreffend selbst bei linksliberalen Medien nicht unbedingt handelsüblich ist – mit den Vorfallnissen offen um und nahm die Presseresonanz zur Causa »Relotius und Wikipedia« mit in den Relotius-Eintrag auf.
Sicher – die IP-Adressen, die rund um diese »einmal Föhnen, einmal Frisieren«-Aktion mit initiativ waren, ermöglichen lediglich das Checken von Orts-Übereinstimmungen, eventuell auch von Institutionen. Eine Chose, die jeder halbwegs IT-Erfahrene in fünf Minuten durchkriegt – und drei, vier Level unerhalb jener etwas ausführlicheren Quelldaten-Abgleichungen angesiedelt ist, die in WP nur einige wenige User durchführen dürfen unter strikter Einhaltung einer von Träger hierfür aufgestellten Policy. Klaro so – ausgehend von den zweifelsfrei gefixten Fakten könnte auch die von Herr Raab aufgeführte WG dahinterstecken. Ebenso wie der Weihnachtsmann, Jacob Augstein oder eine Spiegel-lesende Renterin, die ein großer Fan von C. R. ist und möchte, dass dieser wieder für den »Spiegel« schreibt. Umgekehrt allerdings hat niemand behauptet, C. R. habe in WP selbst Hand angelegt.
Mit anderen Worten: Wo versteckt sich das Problem? Zumal Klaus Raab zwar den wohlfeilen Ratschlag gibt, nicht vorschnell zu urteilen – sich selbst dabei jedoch, natürlich in die umgekehrte Richtung, keinerlei Zwang auferlegt.
Amüsant ist ja auch, dass Relotius jetzt Juan Moreno, den Autor des Enthüllungsbuches über ihn, seinerseits verklagt hat.
Moreno hat einige Fakten falsch übernommen. Da gehts z. B. um die Zahl der Journalistenpreise die Relotius bekommen hat. Und ähnliche Sachen dieser Art.
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Hochstapler-Relotius-verklagt-Aufdecker-Moreno,juanmoreno104.html
Es ist ein Hauen und Stechen. Was zu denken gibt ist, dass es Relotius Anwalt gelungen ist, Moreno damit in ein ähnliches Licht zu rücken. Alles hängt damit zusammen, dass die medialen Geschwindigkeiten gar keine genau Auseinandersetzung mit dem Thema mehr ermöglichen.