Man hat, wenn man die Welt der Kinder wahrnehmen will, immer noch die Welt im Kopf, die man selbst als Kind erlebt hat. Man kann das, wenn man nicht viel älter als 45 ist, an der Sesamstraße überprüfen.
Vor 40 Jahren, am 8. Januar 1973, wurde sie in der Bundesrepublik – in der DDR gab es sie nicht – erstmals ausgestrahlt. Auf den ersten Blick hat sich seitdem nichts geändert: Das Wer-wie-was-Lied gibt es noch, Ernie und Bert, das Krümelmonster. Die Sesamstraße steht in einer Reihe mit den Rolling Stones und eingemachtem Obst. Alles geschaffen, um zu überdauern.
Wenn man sich die Sendung aber anschaut, sieht man, dass die Kinder von heute doch in vielerlei Hinsicht eine andere Veranstaltung geboten bekommen. In einer animierten Spin-Off-Seri
ten Spin-Off-Serie namens „Ernie und Bert im Land der Träume“ haben selbst diese beiden neue Charakterzüge bekommen. Sie träumen sich darin auf Schatzsuche oder ins Weltall, statt das Einschlafen zu verweigern und sich Bananen in die Ohren zu stecken, um Alligatoren abzuhalten. Sie scheinen wilder geworden zu sein, sind aber braver geworden – sie träumen ihre Wildheit nur, während sie elternfreundlicher schlummern als je zuvor.Immergleich ist über all die Jahre nur das Krümelmonster geblieben. Es verkörpert nicht nur durch seine Haltbarkeit das Jubiläum der Sesamstraße am besten. Es zeigt auch, was Kindsein in einer Welt der Erwachsenen bedeutet und erfordert eine Integrationsleistung. Die ist das eigentliche Thema der Sendung. Und das Krümelmonster verweigert sie als einzige Figur.Um vorne zu beginnen: Die Sesamstraße war vom ersten Entwurf an eine pädagogische Sendung; eine, die zugleich anarchisch ist und von der Zähmung der Kinder handelt. In den USA, von wo aus die Sendung in 150 Länder exportiert wurde, sollten Kinder, vornehmlich die aus Haushalten, die man heute bildungsfern nennt, mit der Sesamstraße zunächst einfach Dinge lernen können, die sie sonst vielleicht verpassen würden. Zahlen und Buchstaben zum Beispiel, eine der bekanntesten Textzeilen aus der Sesamstraße lautet: „Dieser Buchstabe hier ist ein A.“ Aber es geht auch um Verhaltensweisen. In Südafrika gibt es daher eine HIV-positive Figur; in einer gemeinsamen Sesamstraße für Israel, Palästina und Jordanien leben die Puppen ein friedliches Miteinander vor; und in den USA plaudert die Puppe Elmo mit der Schauspielerin Whoopi Goldberg über ihre Hautfarbe. Das hat den Nebeneffekt, dass man sich in aller Welt die Serie anschauen und dabei lernen kann, wo es in der Erwachsenenwelt knirscht.Nur das Krümelmonster, wie gesagt, ist unerwachsen geblieben. Die dunkelblaue Puppe trägt ihre Augen, anders als alle anderen, nicht im Gesicht, sondern oben auf dem Kopf. Die Pupillen sind nicht fixiert, so dass es, wenn es sich bewegt, stets in mehrere Richtungen gleichzeitig blickt. Die Erwachsenenwahrnehmung: Das Krümelmonster könnte ADHS haben. Die Kindeswahrnehmung: Es ist sehr zielstrebig, es kann überall zugleich nach Keksen suchen. Krümel will Kekse. Und nimmt sie sich. Das Monster erinnert Erwachsene daran, dass sie gerne nochmal in einem Alter wären, in dem Krümeln nicht stören. Und Kinder daran, dass sie auch einen Keks brauchen.Krümelmonsters Beitrag zur Ordnung der Welt, an der die Sesamstraße ansonsten arbeitet, ist also ihre Entordnung. Nicht aus Bosheit, sondern weil es Spaß macht.Alle Figuren, die schon ein paar Grundregeln des erwachsenen Miteinanders beherrschen, wurden dagegen im Lauf der Jahre und der Kindergenerationen verändert. Auf die menschlichen US-Originaldarsteller folgten bald Lilo Pulver und Manfred Krug; später, wurde die Puppe Grobi zum Computerexperten, und als der Harry-Potter-Boom einsetzte, spielte Dirk Bach den Zauberer Pepe. Mittlerweile gibt es in der deutschen Ausgabe nicht einmal mehr den 1978 eingeführten Faulbär namens Samson und auch nicht den rosafarbenen Duschschwamm namens Tiffy oder den zickigen Herrn von Bödefeld.Auch der Programmplatz ist ein anderer. Statt am Vorabend im Dritten läuft die Sesamstraße heute am frühen Morgen im Kika und fristet ihr Dasein in einer Kindernische. Sie ist in der Erwachsenenfernsehwelt das Kind, das leise sein muss, um die Großen nicht zu stören, wenn sie sich um gewichtigere Dinge kümmern. Die Sesamstraße spielt heute nicht einmal mehr draußen auf der Straße; sie spielt zu Hause bei der Figur Elmo. Lena Meyer-Landrut singt den Titelsong, zu dem man nun keine Kinder mehr sieht, wie sie gefährliche Turnmanöver auf Spielplätzen unternehmen, sondern Elmo, wie er in ein Instrument trötet. Es liegt nahe, die Entwicklung der Sendung im größeren Rahmen zu deuten: Sie spiegelt einen Trend zur Häuslichkeit und zur Überhütung der Kinder, die lieber nicht mehr jenseits des Zauns spielen sollten, es könnte ja eine Jumbojet-Düse vom Himmel fallen oder wenigstens ein morscher Zweig.Ein wenig musste sich dabei übrigens auch das Krümelmonster domestizieren lassen. Als die US-Politik das dicke Kind als Thema entdeckte, pflanzte Michelle Obama in der Sesamstraße mit Elmo Gemüse, und das Krümelmonster bekam eine Diät aufgedonnert. Es musste lernen, dass ein Keks keine Hauptmahlzeit ist. Es dozierte: „Kekse isst man nur ab und zu.“ In der deutschen Version allerdings krümelt das Monster immer noch und blieb, wie es war. Weitgehend. Dass es auch hier nun weiß, wie Gemüse aussieht – ja Gottchen. Man muss optimistisch sein: Es wird den Kindern schon nicht schaden.