King Boris’ Union bröckelt

Großbritannien Der Superwahltag offenbart, wie sehr die Erosion des Vereinigten Königreichs voranschreitet
Ausgabe 19/2021
In Schottland erzielten die Unabhängigkeitsparteien eine klare Mehrheit
In Schottland erzielten die Unabhängigkeitsparteien eine klare Mehrheit

Foto: Ian Forsyth/AFP/Getty Images

Folgt man den Londoner Gazetten, hat der Superwahltag der Briten am 6. Mai vor allem einen Sieger: König Boris. Ihm, dem von Lügen- und Korruptionsskandalen schwer angeschlagenen Premier, dem skrupellosen Machtmenschen, der angeblich intern verkündete, wegen ein paar Tausend Toten zusätzlich keinen unpopulären Lockdown verhängen zu wollen, schenkten die Engländer bei den Kommunalwahlen ihr Vertrauen. Eine noch klarere Sprache spricht der Tory-Erdrutschsieg bei der Nachwahl im nordenglischen Hartlepool, einst eine Labour-Hochburg. Es ist, als wären die moralischen Verfehlungen dieser Regierung bereits bei ihrer Wahl Ende 2019 mit eingepreist gewesen. Man scheint sich daran gewöhnt zu haben.

Nicht daran gewöhnen will man sich in Schottland. Hier blieben die Konservativen einmal mehr unter einem Viertel aller Stimmen. Die Unabhängigkeitsparteien, die Scottish National Party (SNP) wie die Grünen, erzielten erneut eine klare Mehrheit. Die langjährige Regierungspartei SNP (mittlerweile 14 Jahre im Amt) hat zwar die angestrebte absolute Mehrheit um einen Sitz verfehlt, dabei aber so viele Stimmen erhalten wie nie zuvor. Die hohe Wahlbeteiligung und der SNP-Sieg sind einzig und allein auf das Streben nach Souveränität als dem zentralen Wahlkampfthema zurückzuführen. Denn die Regierungsbilanz der SNP ist keineswegs rosig. Das Drogenproblem hat sich in Schottland ebenso verschärft wie das Bildungsgefälle. Dem entgegenzuwirken, daran wollte sich Regierungschefin Sturgeon eigentlich messen lassen. Dazu kommen parteiinterne Querelen und der Vorwurf, Sturgeon hätte in der Salmond-Affäre das Parlament irregeführt.

Verglichen mit den Zuständen am Hofe von König Boris sind dies freilich Lappalien. Daher geht es beim Willen zur Unabhängigkeit nicht um Dudelsack und Kilt, auch nicht in erster Linie um den Brexit. Die eigentlichen Ursachen liegen tiefer. Aus schottischer Perspektive ist die einstmals vielgelobte Westminster-Demokratie ein Auslaufmodell, von dem man sich so schnell wie möglich absetzen will. Da sind die skurrilen, anachronistischen Konventionen, die pompösen Rituale zur Glorifizierung der Regierung ihrer Majestät, die kaschieren, dass auch diese heiligen Institutionen hochgradig durch ökonomische Interessen korrumpiert sind. Ein verlogenes System, das verhindert, einen Lügner einen Lügner zu nennen. Da ist zudem ein Mehrheitswahlrecht, das dauerhaft Regierungen hervorbringt, die keine Mehrheit in der Bevölkerung haben, da sind Jahrzehnte neoliberaler Austeritätspolitik von Thatcher bis Cameron. Da hat man es mit konservativen Regierungen zu tun, die in Schottland (und auch in Wales) Wahl für Wahl abgestraft wurden, nur um danach dank einer Mehrheit in England weiterregieren zu dürfen. Und schließlich ist da der Eton-Zögling Boris Johnson, der nicht nur den Brexit gegen den Willen der Schotten durchgezogen hat, sondern seither die britische Union rezentralisiert und dabei eine einheitliche britische Identität beschwört, die es so nie gab.

Spiel auf Zeit

Es wird nun also zum erwarteten Showdown kommen. Die Gesetzesvorlage für ein erneutes Referendum ist bereits geschrieben. Boris Johnson würde das Gesetz wohl vor Gericht wieder einkassieren können. Trotz des Drucks von der Basis ist von Sturgeon ein nicht genehmigtes Votum kaum zu erwarten. Eine neue Regierung in Edinburgh wird darauf setzen, dass sich London ihrem demokratischen Mandat nicht permanent verweigern kann, ohne die Zahl der Unabhängigkeitsbefürworter nach oben zu treiben. Sturgeon wird auf Zeit spielen. Noch zeigen die Umfragen keine klare Mehrheit für die Unabhängigkeit. Ohnehin soll ein Plebiszit erst nach Ende der Pandemie anstehen.

Unabhängig vom Ausgang dieses Konflikts scheint die britische Union bereits heute am Ende. Boris Johnson mag es gelingen, das Referendum fürs erste zu verhindern – eine Rückkehr zum Status quo ante ist indes nur schwer vorstellbar. Sein Sieg in England, die Gewissheit, dass Labour zu marode ist, um dieses System und seinen zentralen Protagonisten aus den Angeln zu heben, zementieren die Spaltung noch weiter. Das „vereinigte“ Königreich erodiert.

Klaus Stolz lehrt britische und amerikanische Kultur an der TU Chemnitz

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