Nach den Angriffen auf das World-Trade-Center im vergangenen Jahr stand plötzlich auf jeder Tagesordnung: Religion. Völlig unvorbereitet musste uns das Thema allerdings nicht treffen, denn schon Mitte der neunziger Jahre war von einer "Wiederkehr der Religion" die Rede, war zu beobachten, dass Glaubens- und Kirchenfragen wieder an gesellschaftlicher Bedeutung gewannen. Und so schienen die Reaktionen auf die Ereignisse des 11. September nur deutlicher hervorzubringen, was sich langsam vorbereitet hatte. Die Freitag-Religions-Debatte stellt zwei Fragen: Wie verhalten sich Religion und Gewalt zueinander? Was ist aus der Säkularisierung unserer westlichen Gesellschaften geworden?
Debatte ist, wenn niemand mit niemandem spricht. Aber alle graben in ihren Beständen. Lichtenberg grub tief, sah Karl Kraus. So tief, dass er nicht wieder hervorkam. Das passiert heute nicht so leicht. Alle Funde sind ausgestellt auf Zeitungsseiten, zugänglichen Hochplateaus, auf hohem Komplexitätsniveau, wie Jochen Hörisch fordert. Debatte ist Konkurrenz der Komplexitätsniveaus, im Wochenrhythmus. Ein(e) Zara Thustra nach der anderen tanzt über die Götterebene - bloß treffen sie sich nie, Lichtjahre oder auch Götterdämmerungen voneinander entfernt. Also - Debatte?
I "Es kommt darauf an zu beobachten, wie andere uns (und unsere Beobachtung von ihnen) beobachten", sagt Jochen Hörisch (Freitag 31). Und bringt Folgendes bei: "Die westliche Selbstbeobachtung, man sei säkular-liberal und habe Gott zur Privatangelegenheit gemacht, bekommt einen dramatischen Shift, wenn man sie um die im islamischen Raum häufig anzutreffende Fremd-Beobachtung ergänzt, dass wir gerade damit auf Missionierungsprojekte umgeschaltet haben. Der Westen missioniert nicht mehr im Namen Gottes, sondern er emittiert unablässig und gespenstisch erfolgreich die Geld- und Informationsströme, die weltweit zählen." Die Botschaft der Medien des Westens ist damit eine "kryptotheologische", sagt Jochen Hörisch. Dass "wir" säkular-liberal sind, sei nichts als unsere Religion. Unsere ganze schöne, schwer erkämpfte Weltlichkeit sei nur eine Tarnkappe für under cover missionierende Geld- und Informationsströme.
Good point. Ich stimme halb zu. Die westliche Säkularisierungsrede wird tatsächlich zur Verdeckung des westlichen ökonomischen Einfalls in sogenannte unterentwickelte Weltteile missbraucht. Aber: weder ist sie so entstanden, noch geht sie auf in dieser Funktion. Die Forderung nach der Trennung von Kirchen und Staaten, nach Gott als einer Privatsache, die Forderung nach Frauenrechten, bestehen völlig unabhängig von diesen Geldströmen, unter anderem als Rede westlicher Globalisierungsgegner, die nicht im Schilde führen, die Welt dem Hybrid-Jesus Weltbank zu unterwerfen. Wer die "westliche" Säkularisierungsrede derart zur Bankenpropaganda herauftheologisiert, wie Jochen Hörisch es tut, setzt westliche Geld- und westliche Redeströme komplett in eins. Unzulässigerweise: die säkular-liberale Rede westlicher Nicht-Geld-Menschen ist weder Teil des westlichen Imperialismus, noch ist sie kryptotheologisch und auch nicht blinder Fleck, der die Differenz der Kulturen und die Gewaltform der eigenen Kultur nicht wahrnähme. Im Gegenteil. Kritischere Menschen der westlichen Industrienationen pflanzen ja gerade nicht die Kostüm-Fahne von Freedom und Democracy auf die Geschäftshochhäuser von Hongkong, Kairo, Istanbul, Nairobi oder Peking. Sie verlangen vielmehr von den Hochhausbetreibern in New York, London, Frankfurt, Paris, eine endliche Realisierung der Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen für die Unterdrückten und Schwachen auch der eigenen Länder. Welche Forderungen denn sonst als die der französischen Revolution wollte Jochen Hörisch zur Grundlage eines UN-Menschenrechts-Kataloges machen? Den Satz, dass wir alle Hybrid-Wesen seien? Nein, nur der von der égalité geht. Und der ist keine Krypto-Theologie.
Menschen selber, die Objekte dieser Reden weltweit, kommen in bezeichnend anderer Weise bei Jochen Hörisch vor, er nennt sie "instinktentbundene Mängelwesen". Der entscheidende Mangel dieses Normalmenschenwesens sei es, nicht wirklich veränderbar zu sein und in unlösbaren Paradoxien zu zappeln: "Menschen sind Kreuzungen und haben ihr Kreuz zu tragen." Diesen Satz könnte man genau gegensätzlich deuten: gerade weil Menschen Kreuzungen sind, nämlich gemischt aus vielem, könnten sie davon entbunden sein, "das Kreuz" weiter durch ihre Geschichte zu schleppen. Aber Hörisch schwebt ein anderer Ausgang aus ihr vor: "Dass wir monströse Wesen sind, kann man Hybris-kritisch bekämpfen (...) man kann aber auch gelassen ertragen lernen, dass Menschen nur eine Option offen haben: Hybridwesen zu sein."
Gelassen ertragen, schön. Leider lese ich Zeitung: "Erneut verurteilte ein Scharia-Gericht in Nigeria zwei angebliche Ehebrecher zur Steinigung. Es handelt sich um eine schwangere geschiedene Frau und ihren Liebhaber. Seit 1999 haben zwölf moslemisch dominierte Bundesstaaten in Nigeria die Scharia eingeführt. Die Steinigungsurteile lösten nationalen wie internationalen Protest aus." September 2002 und jede Woche wieder. Der Westen "protestiert". Minister Außenfischer (innen: Frankfurter) weist den nigerianischen Botschafter in Berlin auf die frauenfreundlichen Stellen im Koran hin und empfiehlt vorsichtig Lessing-Lektüre.
Westliche Toleranztradition: man respektiert abstrakt eine fremde Religion (einschließlich ihres Terrors), respektiert aber nicht die Unversehrtheit des menschlichen Körpers. Die Menschen interessieren nicht; nur die Staaten interessieren; man macht mit ihnen Geschäfte oder beutet sie aus. Die Menschen - sterben sowieso. Würden sie nicht gesteinigt, stürben sie an AIDS, übermorgen. Leben werden die Scharia-Richter. Einer von ihnen ist morgen Botschafter in Berlin.
Warum diese Zurückhaltung? Man weiß doch allerbestens wie das geht mit den klaren Zeichen. "Der Westen" hatte nicht die geringsten Hemmungen, jeden neuen Tag zu verkünden, dass die kommunistischen Lebensvorstellungen mit denen der Demokratien nicht vereinbar seien. Im Falle der männerdominierten Gewalt-Religionen, wo solche Distanzierung viel angebrachter wäre, hält man sich vornehm zurück. Zeitungen präsentieren gern islamische Autorinnen, die beteuern, es ginge ihnen bestens im islamischen Leben. Es gebe spezielle Freiheitsräume, die von hier aus nicht so leicht zu entdecken seien. Man müsse diese Kulturdifferenzen respektieren.
Nebbich: muss man gar nicht, auch wenn dieser oder jener Einzelpunkt "stimmt". Wenn man aus einigermaßen fundierten Gründen der Ansicht ist, dass Gleichheit unter Menschen in politischen Verhältnissen primär davon abhängt, ob es gleichberechtigte Frauen in einer Gesellschaft gibt oder nicht, muss man zentrale Vorstellungen des Islam verwerfen; wie zentrale christliche oder hinduistische auch. Der Weg zu politischen Freiheiten führt notwendig heraus aus den Religionen, es sei denn, sie ändern sich in zentralen Punkten. Das hat nichts mit Kampf der Kulturen zu tun und nichts mit Eurozentrismus. Wenn die großen Religionen überall auf der Welt "respektiert" werden wollen, müssen sie die Grundregeln der Menschenwürde respektieren. Das ist eine politische Forderung auf UN-Basis. Sie wird allerdings vom Westen aus gar nicht wirklich erhoben, weil dessen Gesellschaften selbst in teilfundamentalistischen Fesseln stecken. Gotteskrieger wie Stoiber oder Bush würden jederzeit religiöse Regeln über Gesetzesregeln installieren, hätten sie die Macht dazu. Die westlichen Sozialdemokratien sind zu opportunistisch, den kirchlichen Institutionen ihrer Staaten die Bedeutungsgrenzen zu zeigen. Statt dessen drängen sie in die Kirchenvorstände, frequentieren Kirchentage, neiden der Gangster-Union das hohe C und sehen nach Menschenrechten auf dem Balkan: "steinigen können wir auch".
Nein. Der Befund, und zwar auf angemessenem Komplexitätsniveau lautet: Religionen, wo sie zu Herrschaftsgefügen sich transformieren oder mit ihnen kollaborieren, sind eine Weltpest. Ob die Weltpest Nummer eins oder Nummer zwei mögen sie mit dem Imperialismus der westlichen Staaten unter sich ausmachen. Letzterer bringt immerhin Verstädterung und elektronische Medien und entschleiert gewisse Gesichter. Alles Sachen, auf die Gott nicht besonders gut zu sprechen ist seit geraumer Zeit.
II
Geschichte, Religion und Technik: Circa 4.000-5.000 Jahre vor Homer wird die Vinca-Kultur, die letzte große matriarchale Kultur, gelegen ums heutige Belgrad, von zentralasiatischen Kriegerhorden zerstört. Die Vormacht der seitdem dominierenden Formen von Männerherrschaft stützt sich auf Techniken: die Domestizierung des Pferds (Landkriege), auf Bronze- und Eisenguss (Waffen), auf Schrift/ Alphabet und Mathematik (Formalisierung des Denkens), auf die Geometrisierung des Raums und des Himmels (Navigation, Seefahrt), auf Verwaltung der Vorräte (Speicher), Organisation des Sakralen (Tempel), des Wissens (Bibliotheken) und des Handwerks: Architektur, Gerätebau, Schiffsbau. Zur politischen Kontrolle werden Institutionen entwickelt, Polizei und Justiz nach innen, Militär nach außen.
Die Abfassung der Urbücher der monotheistischen Religionen ist Folge dieser Entwicklung. Ein schreibender Gottvater bringt Gesetze aus dem Feuer. Sie erheben das männliche Sippenoberhaupt zum legalisierten Statthalter Gottes, zum Besitzer von Frau(en) wie Kindern und zur obersten gesellschaftlichen Rechtsinstanz. Die Schriftreligionen schreiben diese Herrschaft als gottgegeben fest; unerschütterlich galt für fast zwei Jahrtausende die Lehre von der Suprematie des Mannes, praktisch durchgeführt in der männlichen Kontrolle des Geburtenwesens. Aristoteles´ berühmte Teilung der Elemente in Feuer und Luft (männlich) versus Erde und Wasser (weiblich) darf man lesen als Formel für die Überlegenheit von Metallguss (Feuer/Geist) über Töpferei (Erde/Natur).
Debatte. Michael Jäger (Freitag 29) äußert mit Slavoij Zizek die Vermutung, dass "Juden- und Christentum selbst schon die Säkularisierung" wären "von allem, was vorher Religion ist." Das ist nicht nur vermutlich, sondern ganz sicher so, und zwar spätestens seit Erfindung des griechischen Alphabets, das eine Technologie zur Welterfassung wie auch zur künstlichen Weltherstellung ist. Im Moment, in dem Hesiod seine Theogonie schreibt, also die Lehre von der Genealogie der Götter verschriftlicht, sind die Götter von Menschen gemachte Wesen. Die vokallosen Schriftzeichen vorheriger Jahrtausende richten sich noch an Gottheiten, statt diese zu erzeugen. Seit circa 800 v. Chr., also vor Abfassung der hebräischen Bibeltexte, sind die Götter Geschaffene, keine Schöpfer mehr. Und sind Religionen Herrschaftstechnik, auch wenn sie sich Schöpfungsgeschichten nennen. Techniken, mit denen gewitztere Leute ungewitztere etwas glauben machen. Wogegen Ungewitztere sich wehren, indem sie Fundamentalvorschriften aus dem Götterspiel destillieren, den Spieß umdrehen also.
Die Probe aufs technisch-religiöse Exempel liefern zum Beispiel die christlichen Conquistadoren, die im 16. Jahrhundert Amerika einnahmen. Sie glaubten selber kein Wort (mehr) von dem, was sie den "Wilden" der neuen Welten in puncto Religion erzählen. Hernando Cortés machte in Mexico 1517 den Kaziken ("Häuptlingen") der eingenommenen Stadt Tabasco weis, das zornige Wiehern der spanischen Pferde sei Ausdruck des Zorns von Cortés Gott. 70 Jahre später spielte Thomas Hariot, der "englische Galilei", Mathematiker, Naturforscher und Soziologe, das gleiche Spiel mit Indianern Nordamerikas. Er ließ die Algonquin-Indianer, die sich für die englischen Navigationsgeräte interessierten, im Glauben, diese seien gottgemacht und den überlegenen Engländern von einem überlegenen Gott als Auszeichnung verliehen. Das massenhafte Sterben ganzer Indianerdörfer, die nach Berührungen mit den Engländern unerklärlicherweise dahinsiechten, erklärte Hariot als Strafe des Christengottes für den falschen Glauben der Bewohner Amerikas.
Die europäischen Eroberer instrumentalisierten die Religion, wo immer möglich. Ihr Gott war ihnen ein Begründungs-Placebo für jeden Eroberungsakt, für jedes vorgenommene Massaker, für jeden Landraub, jede Stadteinäscherung, jeden Herrschersturz. Der Clou: die Christenreligion ließ sich auf diese Weise instrumentalisieren, weil die Objekte der Unterwerfung tatsächlich religiös waren. Die Azteken in Mexico, die Indianer Nordamerikas lebten in religiösen Zyklen und Gottverbindungen, die die Spanier und später die Engländer, Holländer und Franzosen längst nur noch taktisch einsetzten. Was die Spanier nicht daran hinderte, am Morgen vor entscheidenden Schlachten inbrünstig die Mutter Maria anzurufen: religiös für 15 Minuten; eine Minute später Techniker der Schlacht.
Das umlaufende Gerede von "Identitäten" will nicht wahrhaben, dass es den irgendwie "identischen" europäischen Menschen nicht gibt. Spätestens seit der Renaissance haben wir den multiplen Menschen, den Funktionsmenschen, den Umschaltmenschen, den segmentierten Menschen, der nach den Regeln wechselnder Techniken, aus denen er konstruiert ist, von einer Existenzform in die nächste springt und wieder zurück; er ist nicht einfach psychisch "gespalten", wie ein nur auf die unglücklichen Fälle zutreffender psychologischer Terminus es fasst, er ist eine Funktionsvielheit; und je entwickelter er ist, desto exakter liegen die Vielheiten als getrennte bei ihm vor. Er ist auch der "religiöse" oder "nationale" Mensch nur in einer Teilsequenz seiner Bauweise; deswegen verfügt er über die Fähigkeit, seine jeweils verschiedenen Segmente nach Bedarf jeweiliger Lagen einzusetzen, sie zu kombinieren, sie zu instrumentalisieren, aber keins dieser Segmente ist allein substanziell; seine Substanz besteht gerade in der sequenzierten Technologisierung seines seelischen Apparats. "Affektbündel", wie Hörisch ihn nennt, ist er nur in Ausnahmezuständen des Missglückens dieser Organisation. Und diese ist dann meist auch politisch organisiert (Faschismen) oder kulturell organisiert (Alkoholmissbrauch) oder religiös (Fundamentalismen).
Die Spanier, als Taktiker des Religiösen, führten diese Segment-Struktur erstmals praktisch großangelegt in der Conquista (Unterwerfung) vor. Ihre Überlegenheit lag in dieser Struktur, sie ist die bis heute dominante der Westler, sie baut sich ständig weiter aus.
III
Instrumentalisiert ist die Religion seitdem geblieben; Instrument in den Händen von Gewitzten, die weniger Gewitzte etwas glauben machen, innerhalb wie außerhalb der eigenen Kultur, mit oder ohne Einsatz von Sonnenfinsternissen. Warum schließlich das Christentum und der Islam sich als historische Großmeister in der Handhabung der Religion als Herrschaftstechnik erwiesen, ist eine im Einzelnen komplizierte Diskussion. Sie hängt aber entscheidend mit dem Technikgebrauch und der dominanten segmentierten Persönlichkeitsstruktur zusammen, die sich seit der Renaissance in Europa als Standard und in den islamischen Ländern zumindest in der Oberschicht in ähnlicher Weise ergeben hat. Christentum und Islam sind praktische Religionen. Was sich berechnen lässt, lässt sich auch bauen. Ihre Priester sind Wissenschaftler. Mohammed ist Händler und Krieger. Für die Kirchenführer beider Religionen stand nie in Frage, dass sie sich bewaffnen müssen, wenn die Durchsetzung ihrer Belange ohne Waffen nicht möglich schien. Eben deshalb sind sie heute noch da, und in Angelegenheiten politischer Macht die beiden bedeutendsten. Nicht brüderlich, aber strukturverwandt. Es gibt keine zwei weiteren Gott-Typen, die sich so sehr ähneln wie der Vater von Jesus Christus und der allmächtige Allah.
Wohingegen kein süd- oder nordamerikanischer Indianer je einen Gewehrlauf gegossen hat und ein Gewehr gebaut, unter anderem weil er, als Mensch für den es heilige Bezirke gibt, seine Bergwerke für Götterorte hielt, zu betreten nur für sakrale Verrichtungen. Der indianische Ingenieur, der den Erzabbau und den Metallguss erfunden hätte, hätte gefrevelt am Heiligtum.
Debatte. Christina von Braun (Freitag 33) beobachtet: "Fundamentalistische Bewegungen sind gekennzeichnet von der Unfähigkeit, eine symbolische Ordnung als symbolisch zu erkennen. Sie halten sie für natürlich oder gar biologisch bedingt - und das verleiht ihnen, in ihren eigenen Augen, das Recht, diese Ordnung mit Gewalt durchzusetzen oder zu verteidigen." Interessante Argumentation. Wo steht, dass man Morden darf, bloß weil man etwas für natürlich hält? Für wie naiv hält man die Fundamentalisten? Der Koran ist ein ebenso opportunistisch gebautes Buch wie die Bibel, das heißt mit Regeln für alle Sorten denkbarer Fälle, drehbar so und mal so. Zumindest die Religionsführer sind bei jeder Religion gewiefte Auslegungskünstler, very sophisticated, sie verwechseln gar keine Ordnungen, sie springen nur beliebig zwischen ihnen hin und her, symbolisch, biologisch, göttlich, visionär, gesetzgeberisch diktatorisch oder als von Gott aufgesuchtes Subjekt von Offenbarungen. Sie wollen etwas. Und wer etwas will, kalkuliert. Der Islam ist primär eine Händlerreligion und der Koran ein Buch für alle denkbaren Lebens- und Konfliktlagen arabischer Händler, mit speziellen Anweisungen, wie jüdische Konkurrenz auszutricksen sei (mit gottgewollten oder gottgefälligen Verfahren). Jeder Islamist ist sich jeden Moment der instrumentalisierenden Verwendung seines Grundbuchs bewusst. Wo die freie Zungenrede reicht, kommt er mit ihr aus. Wo es knifflig wird, kommt er mit Exegese, wie die Christen. Er kennt sein Buch allerdings großenteils auswendig, als Buch, nicht als zehn Gebote-Bio-Produkt.
Instrumentalisiert ist Religion im Amerika der Wahlkampagnen. Amerikanische Freunde versichern, dass die freie Hand, die Bush Sharon für militärische Aktionen lässt, weniger mit seinen Einstellungen zum israelisch-palästinenischen Konflikt zu tun habe, als mit inneramerikanischen Lagen: den Anspruch der israelischen Siedler auf göttlich verbrieftes Land, heiliges Land, zu unterstützen, bringt sichere Stimmen der amerikanischen "Bible Belt"-Sekten sowie die Stimmen eines Teils der amerikanischen Juden, entscheidende Stimmen. Mit diesen wird man Präsident, ohne diese wird man nicht Präsident. Da reichte kein zusätzlicher Auszählungsbetrug. Die "Bible Belt"-Leute selber instrumentalisieren ihr Christentum seit Jahrhunderten, indem sie unter ihrer Gottauserwähltheit ihre verschiedenen Rassismen verstecken. Ihre Überzeugung, als God´s Own People die schönen (gestohlenen) Landschaften zu bevölkern, war schon immer die amerikanische Version des Herrenrasse-Seins. Nicht von ungefähr taucht mit absoluter Sicherheit in amerikanischen Mündern das Wort "master race" auf, wenn die Rede auf Old Germany kommt. Es kommt aus ihrem innersten Herzen: "Ihr mit eurer master race." Sie kennen das, fasziniert. Und tragen einen God-Sticker über dieser Stelle. Religion, wo sie Überlegenheit über andere Glaubens- oder Daseinsformen postuliert, inkarniert immer sowohl Sexismus wie Rassismus; ein Minischritt, und jede von ihnen ist mittendrin.
Die flachste Rede des letzten Jahrhunderts war die vom Nationalsozialismus und vom Kommunismus als Ersatzreligionen. Beide waren keineswegs mit "Ersatz" zufrieden. Sie wollten neue Religionen sein, Hitler und Stalin zweifelten keinen Moment an der Gottgleichheit ihrer Positionen und Funktionen. Führerkult als Gottesdienst störte keinen der Anhänger, im Gegenteil, dies war geradezu der Beweis für die Gottgewolltheit des eigenen Lebens in der kriminellen Übertretung. Denn das ist das Privileg der Gottheiten: to do what they want to do. Alles dürfen ist die einzige Vorahnung des Paradieses, die es auf Erden gibt, für das simple unterdrückte und unterdrückende Normalmenschlein aller Länder. Der Schritt in die Religionisierung des gesellschaftlichen Lebens bietet ein wundervolles Tor. Die Judenvernichtung war Gottesdienst. Die Deutschen wollten selbst das auserwählte Volk sein. So wie gewisse Islamisten die Vernichtung sogenannter Ungläubiger nicht nur wünschen sondern als Gottesdienst propagieren. Die Gefahr der Religion(en) als Totschlagvehikel bannt man nur, wenn man sie rigoros vom Staatlichen trennt, von allen gesellschaftlichen Machtinstitutionen. Aufhetzbar, ethnisch-religiös, sind Menschen erwiesenermaßen immer, besonders die kaputten und schwachen. Es winken Angstentlastung und Beute. Wo kein rigider verfassungsmäßiger Schutz davor besteht, bleiben Religionen in der Position potentieller Mordvereine. Religionen - the horror, the horror. Der säkulare Staat als Kirche allerdings nicht minder.
Debatte. Wolfgang Eßbach (Freitag 35) definiert Fundamentalismus als Bewegung, "die sich vom frommen Traditionalismus dadurch unterscheidet, dass sie in militanter Weise die religiös begründete Ablehnung der modernen Kultur mit modernstem Wissen und Techniken erreichen will." Fundamentalisten "wollen das Paradoxe: die wissenschaftlich-technische Creme moderner Kulturentwicklung und zugleich die Versteinerung der Religion." Mich erinnert das an verschiedentliche Definitionen von Faschismus: Nutzung und Entwicklung modernster Technologien bei gleichzeitiger Blut- und Boden-Ideologie. Eine Diskussion, ob und wie die Fundamentalismen von Faschismen abzusetzen seien oder eben nicht, fände ich interessant.
IV
Gott ist nun mal kein Demokrat. Unsere merkwürdigen Toleranzler sind etwas vage in diesem Punkt. Ein bekannter deutscher Terrorismusforscher erhielt nach dem 11. September 2001 vom Vorsitzenden einer moslemischen Großgruppe in Deutschland auf die Frage, ob seine Muslime das Grundgesetz anerkennen würden, die Antwort: "ja - solange wir in der Minderheit sind". Eine ehrliche Antwort. Niemand soll so tun, als würden die Religionen beziehungsweise ihre Großrepräsentanten nicht deutlich sagen, was ihnen vorschwebt: gesellschaftliche Herrschaft unter ihrem jeweiligen Stern. Diese oder jene Scharia für jeden denkbaren Landstrich und für jede denkbare Kultur. Wir müssen bloß warten, bis wir in der Mehrheit sind. Der Papst kennt dies Einmaleins und kontert mit dem fortdauernden Verbot der Pille, das heißt mit Gebärgebot für die katholischen Frauen der Welt.
Politisch gilt vom christlichen Westen aus: mit islamischer Feudal-Herrschaft lässt sich besser Pferde stehlen als mit den Protagonisten säkularisierter arabischer Interessenverbands-Demokratien. Ein Gott wäscht den andern, niemand erhält größere Subventionen - verbucht man einmal die diversen Kriegskosten in dieser Rubrik. Toleranz? Die Religiösen haben sich noch nie darum gekümmert, ob sie weltliche Gefühle verletzen, meine oder andere. Die ich für empfindlicher halte, als deren aufgedonnerten Jesus- oder Allah-Schutz. Habe ich gelernt, das Christentum und seine sogenannten Gläubigen zu verachten, um einen öffentlichen Richtung-Mekka-Beter in der Flughafenhalle tatsächlich zu respektieren? Weder die Lessingsche noch die Rosa Luxemburgische Toleranzregel gilt für religiöse Übergriffler. Religion wird übergriffig, sobald sie öffentliche Räume okkupiert ... die Kreuze in Klassenzimmern, über Klinikbetten ... "Diese Schweine", sagt Eddie Constantine in Godards Allemagne Neuf Zero, als er eine Bibel findet im Nachttisch seines Westberliner Hotels. "Quel salouds"! Es ist der letzte Satz des Films.
Die Trennung von kirchlichen und staatlichen Gesetzbüchern und die Desakralisierung des öffentlichen Raums sind Produkt langer gesellschaftlicher Kämpfe. Die Forderung nach Einhaltung dieses Status für jeden hier Lebenden finde ich verbindlich. Dazu ist weder "Assimilierung" noch "Integration" vonnöten. Wer fremd bleiben will, soll fremd bleiben dürfen: wenn er seine Sorte Anderssein nicht zum Gesetz erhebt; auch nicht für die Familienangehörigen. Die vom Grundgesetz verlangte Respektierung der Würde der Person gilt auch für islamische Frauen. Ihre Männer, die sich nicht daran halten, verletzen hier geltendes Recht. Kulturelle Gewohnheiten sind in andere Staaten transplantierbar, aber nicht als Gesetz. Wo sie kollidieren, muss man Anpassung des Verhaltens ansteuern. Warum? Weil islamische Männer unter anderem hier auch den Schutz dieser Gesetze genießen; zum Beispiel den Schutz privater Räume. Er ist kein geringer.
Verständnis für die andere Religion ist davon unberührt. Manche Menschen brauchen Religionen. Dass sie ihnen anhängen, geht mich weiter nichts an, mir steht auch kein Urteil darüber zu. Ich "verstehe" auch den Typ, der vor dem Fernseher nackte Kinder anschaut und dabei onaniert; er gehört weder ins Gefängnis noch sonstwie interniert. Vielleicht braucht er Hilfe. Die Hersteller der Bilder, die er anschaut, dürften Kriminelle sein. Deswegen ist die Tatsache, dass er auf andere Weise sexuelle Lustgefühle nicht bekommt, nicht kriminell. Wie die religiösen Ad-Orgasmus-Beter nicht kriminell sind. Wir haben eher zu wenig Toleranz für das, was zwischen den Wänden von Miets- und Eigentumshäusern sich abspielt auf den verschiedensten Ebenen des Klandestinen, das nicht getragen wird von moralischer oder religiöser Norm. Dass dies so ist, liegt aber zum größten Teil am historischen Terror der Religionen, die einen kühlen, aber teilnehmenden Blick auf die Wucherungsformen des Menschlichen nie zugelassen haben.
Es gibt kluge, vernünftige Menschen, die eine ständige Kommunikation unterhalten mit einer Gott-Instanz, die Teile ihres Lebens danach ausrichten; ich belächle sie nicht. Gleichartiges von andern erwarten oder gar zur Voraussetzung von Befreundungen machen, würden sie nicht. Sie sind wirklich Religiöse; es gibt da etwas und sie wollen und sie pflegen dies. Was die Offiziös-Religionen anstellen, ist nicht zuletzt eine permanente Beleidigung dieser Menschen, denen Gott kein Lappen ist, den man der Restwelt fordernd um die Ohren haut.
P.S. von der Heimatfront: Wie viele schulische Elternabende wären unangenehmer verlaufen ohne den Schlüssel fürs Gemeindezentrum; wie viele ländliche Jugendleben nie richtig gestartet oder ganz anders gegangen, ohne die Funktion des Gemeindehauses als Wochenenddisco und Rockkonzertsaal. Kirchliche Einrichtungen, oft wichtiger als "die Religion", und nicht unbedingt an diese gebunden, liefern manchmal Entwicklungsräume, für die man sogar Kirchensteuer zahlen kann. Der Priester in Elvis Community Church war ein guter Gitarrist. "Gospel" kann ganz vieles heißen, die Sexualität einschließen sogar.
Der Germanist und Schriftsteller Klaus Theweleit, geboren 1942, wurde in den siebziger Jahren bekannt durch seine umfangreichen Faschismus-Studien Männerphantasien; seither veröffentlichte er mehrere große Kulturstudien, darunter den Zyklus Buch der Könige, in dem er die Geschlechterbedingungen männlicher Kunstproduktion untersuchte. In dieser Woche erscheint beim Verlag Stroemfeld/Roter Stern Theweleits jüngstes Buch Der Knall - 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell.
Bisher in der Religions-Debatte:
Michael Jäger:Gott und die Katastrophen; über Religion und Revolution (Freitag 29). Jochen Hörisch: Wir gottgleichen Hirnhunde; über die Hybris der Religion (Freitag 31). Christina von Braun:
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