Es regnet, regnet und regnet. Neapel wird nass. Sturzbäche laufen seine Straßen hinunter, der Bus spritzt den Menschen die Hosen fleckig aus schmutzigen Pfützen. Cafés bleiben leer. Das Erdreich kommt ins Rutschen. Häuser stürzen ein. So viel zum Inhalt. Mehr passiert nicht, aber was soll das schon heißen?
Wird man im handelsüblichen Roman von 2019 mit großer Sicherheit in das Leben einer übelst authentischen, tiefenrecherchierten Figur hineingezogen, die dann eine der handelsüblichen Handlungen durchläuft, richtig schicki mit Konflikt, Entwicklung und Auflösung, so hat das Einzelschicksal bei Nicola Pugliese dann bitte schön auch mal stillzuschweigen. Schon der Titel weht uns an als Befreiung von Plot, Schweiß und Tränen, auf denen wir durch die mühsam gezimmerten Kulissen heutiger Romane glitschen: Malacqua. Vier Tage Regen über Neapel in Erwartung, dass etwas Außergewöhnliches geschieht. Da weiß man schon. Dass man nichts weiß. Dass Begreifenwollen, Erzählenwollen doch auch eine Form von geistiger Verengung ist. Dass Erzählen der Welt Gewalt antut. Weil es sich aufs Verwertbare, auf Ursache, Wirkung und Bedeutung konzentriert, alles andere aber weglässt, allen Schlick und Matsch, alle Stolperer ohne Konsequenz, alles Blubbern halb gefühlter Gefühle, alle abgebrochenen Gedankengänge, alle scheuen Blicke, aus denen nichts folgt.
So aber ist das Leben, auch das von Andreoli Carlo, dessen Name so umgestülpt ist wie die Namen aller hier umhergeisternden Figuren, Nachname zuerst, als wären sie Teile eines Verwaltungsvorgangs, vielleicht schon lange tot, als wären sie nur Symbole ihrer selbst, der Welt fern auf nie ganz erklärliche Weise, so wie eben Andreoli Carlo, eine Art Hauptfigur: grübliger Zeitungsredakteur, dem das Buch einen Prolog gönnt, ehe das Sturzwasser über seine Stadt kommt. Uns Analysejunkies führt sein Vorhandensein in Versuchung. Ließe sich nicht diese untergurgelnde, semidepressive Stadt Neapel als Spiegelbild seiner Seele sehen? Vielleicht gar der des Autors auch: Nicola Pugliese, der nur diesen einen Roman hinterließ. Der nach Abverkauf der ersten Auflage verfügte, dass das Buch nicht mehr neu aufgelegt werde. Warum?
Vielleicht ist das kein Roman
1977 erschien das Buch, in der Antike kennt das Internet sich besser aus als in jenen Tagen. Vergessenes Werk, vergessener Autor, das reicht gerade, um „Kultbuch“ auf den Umschlag zu schreiben. Leicht fällt allen, es das „Porträt einer Stadt“ zu nennen, da ja das klassische Figurenspielwerk hier nicht vorhanden ist und alle sich nur im Regen zu behaupten versuchen, doch hallt durch dieses verwitternde Neapel das Echo einer ganz bestimmten Erzählstimme; vielleicht ja doch der von Andreoli Carlo, der im letzten Kapitel sehr, sehr lange zur Rasur vor dem Spiegel steht, sein älter werdendes Gesicht inspiziert und mit Wasser und Schaum bedeckt, während er das weitere Überleben der Stadt im Regen imaginiert: Man freut sich über einen solchen störrisch verharrenden Erzähler und Erträumer in unserer durchökonomisierten Literaturlandschaft, in der auch dieses Buch sich fragen lassen muss: Kommt es mit einer Handlung daher, welche eine Verfilmbarkeit nahelegt?
Nein. Ist es sehr lustig, supertraurig oder megaspannend, hm? Och nö. Hat das Buch eine hübsche junge Frau geschrieben, die sich gut in Anzeigen abbilden lässt, oder ein Schauspieler, Komiker, Moderator, sonstig bekannter Hanswurst? Auch das nicht. Nutzt das Buch bekannte historische Verwerfungen, um mit ihnen ins Reich der Beachtung vorzudringen? Humm. Lässt es sich in einen aktuellen Mediendiskurs einfügen? Nur leidlich, wenn es in Italien gerade mal doller geregnet hat.
Vielleicht ist Malacqua gar kein Roman. Ist ja auch nur ein Label. „Roman“, das ist Buch-PR, um’s Leservieh an die Kasse zu schieben. Damit die wissen: Das ist jetzt kein Kochbuch. Malacqua ist mehr wie der zitternde Puls eines Gedichts, eine Stimmung, ein Moment, der mit Geschick eingefangen und untersucht werden konnte. Ist ein Innehalten, ein Hineinlauschen in auftauchende, vergehende Einzelmenschen, in eine graue Trübnis und ferne Schreie aus namenloser Verzweiflung; ist ein Taumeln durch eine Welt aus losen Enden. Irgendwann, außerhalb dieser Welt, wird dann der Regen wieder aufgehört haben, wird die Rasur beendet sein, werden die Kinder auf den Straßen spielen, wird das Meer wieder glitzern, und alles wird wie früher sein, nur jetzt eben nicht. Jetzt ist da diese Seltsamkeit. Eine Veränderung kündigt sich an, die nie eintreten wird. Vielleicht ja eine Flut.
Info
Malacqua. Vier Tage Regen über Neapel in Erwartung, dass etwas Außergewöhnliches geschieht Nicola Pugliese Barbara Pumhösel (Übers.), Launenweber 2019, 232 S., 24 €
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