Rollback unter der Achsel

Zeitzeuge Frauen sollen frei über ihre Körper verfügen. Mann staunt: Huch, war das Thema nicht längst durch?
Ausgabe 11/2018

Neulich war ich bei einer Lesung von Margarete Stokowski. Untenrum frei, ihr Buch über Frauen, ihre Körper und die Frage, was Sexualität mit Politik zu tun hat. Der Raum war brechend voll, sogar vier Männer waren da.

Alle Räume, in denen Stokowski liest, sind voll, deutschlandweit. Sie trägt die Fackel des Feminismus übers Land, wohin sie auch kommt, strömen junge Frauen hinzu. Selbst hier, in Prenzlauer Berg, wo sonst nur die wohlsituierten Mamas ihre Designkinderwagen rumschieben.

Woher kommen an diesem Abend nur all die Studentinnen? Und woher kommt ihre Hingabe? Die jungen Frauen saugen alles auf, was Margarete liest und erzählt: Frauen verfügen selbst über ihre Körper. Sie haben – klar – dasselbe Anrecht auf eine erfüllte Sexualität wie Männer sie zu haben glauben. Keine Frau muss Analsex ertragen, wenn der ihr keinen Spaß macht, schon gar nicht, um den Partner glücklich zu machen.

Die jungen Frauen machen große Augen. Nicken heftig. Und haben nach der Lesung Diskussionsbedarf.

Leben ist kein Männerporno

Für einen kurzen Moment zweifle ich an Raum und Zeit. Ich war in den Siebzigern und Achtzigern Kind und verwirrter Jugendlicher, in Lübeck, Schleswig-Holstein. Sozialdemokratische, hanseatische Erde. Konfessionell im Kuschelgriff des Atheismus-Pragmatismus, ein Hauch von Skandinavien in der guten Luft. Dazu ein paar aufgeklärte, unambitionierte Eltern, Aszendent Laissez-faire. Bei irgendjemandem lag immer die Emma in der Küche. Wir liefen in Parkas herum und wunderten uns, als die ersten Popper aufkamen und die ersten Sweatshirts mit brustbreitem Aufdruck: BOSS.

Was Frauen betrifft, gehörten ein paar Dinge für mich zum Grundwissen Welt: Frauen wurden jahrtausendelang unterdrückt, bis hin zu meiner Mutter, der noch in ihrer Kindheit übel mitgespielt wurde. Dass das anders werden muss, war für mich nicht weiter erwähnenswert – alles andere wäre ja ungerecht. Selbstverständlich bestimmen Frauen ganz allein über ihre Körper. Selbstverständlich erwartete ich von keinem anderen Menschen, keiner Frau, dass sie meinetwegen Dinge tut, mit denen sie sich nicht wohl fühlt. Beim Sex schien es doch eher um Sympathie und Spaß zu gehen, nicht um Unterdrückung und Machtspielchen.

Nun sitzt also Margarete Stokowski da vorn und diskutiert mit den jungen Frauen. Ermutigt die Anwesenden, sich der eigenen Körper zu ermächtigen. Keine Frau muss die Pille nehmen, damit der Mann sich das Kondom erspart. Keine muss allzeit verfügbar sein, keine sich untenrum rasieren, wenn sie keinen Bock darauf hat.

Und ich? Sitze still hinten in meiner Ecke und fasse es nicht: Das ist doch längst alles durchgesetzt! Oder ist da etwas an mir vorbeigegangen? Wie, Pille? Ernsthaft? Sind das nicht Basics: Das Leben ist nun mal kein Männerporno?

Ich erinnere mich gut daran, als die Ersten um mich herum anfingen, sich die Beine zu rasieren. Ich wunderte mich: Wollen Frauen jetzt zu Barbiepuppen werden? Von Achseln und Muschi ganz zu schweigen? Die Welt, aus der ich komme, hatte noch diesen Naturbegriff als Leitbild: Wir retten nicht nur den Regenwald und bauen Krötentunnel, wir finden auch unsere Körper so okay, wie sie nun mal sind. Was spricht dagegen, mal ein Schamhaar der Liebsten zwischen den Lippen zu haben? Und nein, ich bin kein Hippie. Das war unsere Normalität damals. Und es war nicht die doofste Normalität.

Eine Normalität aber, mit der man zufrieden ist, wird gefährlich. Man beginnt, sich einzurichten in ihr. Man beginnt, sie für gegeben zu halten. Und jetzt sitzt also Margarete Stokowski da vorn und erklärt geduldig und mit Spaß Dinge, die ich seit Jahrzehnten für durchgesetzt hielt.

Ich bin irritiert: Diese Veranstaltung müsste ihrer inneren Logik zufolge vor sechzig, siebzig Jahren stattgefunden haben. Die Frauen würden sich jetzt befreien und mit ihren Körpern aussöhnen.

Irgendwann dann käme ich auf die Welt, in diese kleine, feine, hanseatisch-aufgeklärte. Diese Welt aber würde natürlich immer so bleiben, denn sie hatte alle Argumente auf ihrer Seite: Vernunft, Humanität, Frieden, Gleichberechtigung. Die Fackel der Aufklärung leuchtet unwiderstehlich und wir wärmen uns fröhlich an ihr.

Das ist natürlich Bullshit. Die Zufriedenheit gebiert Monster – und ich bin offenbar eines von ihnen. Die Taschenlampe der Aufklärung kann jederzeit ausgeknipst werden. Von mir kaum bemerkt hat offenbar ein Rollback stattgefunden. Tatsächlich ist die Gesellschaft eben doch nicht unbeeinflusst und schlau vorbeigegangen an Millionen von pornofizierten Plakaten und Anzeigen von sexistischen Werbern, an Zeitschriften voller antiseptischem Perfektionsterror. An der tausendfach hassenswerten Heidi Klum und ihrem Germany’s Next Topmodel. An Kinohits voll klassischer Geschlechterrollen und unhinterfragter toxischer Männlichkeit, vollem gefühllosen männlichen Heroismus und weiblicher Sweetness.

Dann eben nicht!

An dem Abend mit Stokowski scheint mir der Weg in eine aufgeklärte Zukunft plötzlich nicht mehr wie eine Straße, die von Tag zu Tag breiter und schöner wird. Dieser Weg ist ein Tunnel, von dessen Decken und Wänden unaufhörlich der Sand rieselt, der gerockt und erschüttert wird von nie ganz verstandenem Grummeln und Wummern aus den dunklen Tiefen der Erde. Ein Weg, den man freischaufeln muss – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.

Immerhin: Ich musste mich nicht mehr so schlecht fühlen wie früher. Das abwertende Klischee der schmallippigen Emanzen mit ihren gezückten Schwanzscheren ist für junge Feministinnen kein Thema. Als Mann bist du nicht automatisch böse und gemein. Stokowski versteht ihren Feminismus als geschlechterübergreifenden Auftrag: Ohne Befreiung des Mannes keine Befreiung der Frau. Toxische Männlichkeit bedroht alle, wenn auch auf je unterschiedliche Weise, sie tut allen physische und psychische Gewalt an.

Ich fühle mich wohl. Irgendwann fragt jemand: Gibt es solch ein Buch auch von einem Mann? So einen offenen, privaten, berührenden und tragikomischen Bericht über die Entwicklung der eigenen sexuellen Identität? So ein Buch von einem Mann, antwortet Stokowski, wäre wünschenswert, aus feministischer Sicht.

Da horche ich auf. Ein solches Buch schriebe sich doch praktisch von selbst! Sofort fallen mir Dutzende Szenen aus meinem Leben ein, berührende, unwürdige, peinliche, urulkige. Welche mit Sex oder dem Wunsch nach ihm. Voller Rollen- und Hormonstress, voller Erfolgsdruck, Sehnsucht und Befangenheit. Dieses Buch rattere ich in zwei Monaten runter, denke ich. Und habe Spaß dabei – und noch etwas Gutes getan.

Beschwingt schreibe ich meine Agentin an: Sex, Buch, Stokowski. Jetzt auch von einem Mann. Super Idee, oder? Kurz darauf lässt mir die Agentin die Luft raus. Dieses Thema, antwortet sie, komme bei den Verlagen nicht an. Erst neulich habe ihr ein „gut eingeführter Autor“ ein ähnliches Projekt vorgeschlagen. Und dann? Achselzucken, Abwinken. Warum?

Ich weiß es nicht. Habe aber einen Verdacht. Er heißt: struktureller Sexismus. Eine Buchidee muss die Leute im Verlag sofort kriegen. Und es muss die Leute in den Medien sofort kriegen. Die Entscheidungsträger sind, soweit man weiß, überwiegend Männer mittleren Alters. Legt man denen ein Buchprojekt hin, in dem jemand seine sexuelle Selbstfindung beschreibt, so denkt ein solches männliches Entscheiderhirn: Ah, von einer Frau geschrieben, hochinteressant! Super! Will ich lesen. Oder es denkt: Och nö, von einem Mann, wie peinlich, zum Fremdschämen. Und zum Wiedererkennen. Ein Schlüsselloch, durch das man nicht gern schauen mag. Ob das Buch wohl gemacht wird? Darüber entscheidet männlicher Voyeurismus.

Wenn meine Theorie denn stimmt. Denn Sie wissen ja, wie das ist: Männer! Können mit Zurückweisungen schlecht umgehen. Spielen den Beleidigten. Dann halt nicht! Gibt’s eben kein Buch! Mir doch egal.

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