Theater ohne Drama

Bühnenversionen Wenn ­Spielpläne sich wie Bestseller­listen lesen: Die Mode, ­bekannte Romane auf die ­Bühne zu bringen, hat mit Kunst nichts im Sinn

Wenn auch rein statistisch betrachtet an den deutschen Bühnen mehr denn je neue Stücke zur Uraufführung gelangen – in der Regel allerdings nur auf den kleinen Nebenschauplätzen im Keller oder unterm Dach –, gibt es gegenwärtig kaum Dramen von Bedeutung, die auf großen Bühnen inszeniert und von vielen Theatern nachgespielt werden. Viele Dramen vergangener Epochen, die zum Repertoire der deutschen Stadttheater gehörten, sind nahezu völlig von den Spielplänen verschwunden. Von Shakespeare abgesehen, einigen Werken der Klassiker Goethe, Schiller, Kleist und Büchner sowie von Ibsen, Tschechow und Brecht, werden bekannte Romane für die Bühne adaptiert oder mehrere Stücke und sonstige Texte eines Autors zu „Projekten“ collagiert.

Die Aufführungen so vieler in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts noch gern gespielter Stücke von Autoren wie Barlach, Babel, Grabbe, Hebbel, Marivaux, Giraudoux, O’Casey, Ostrowski, Suchowo-Kobylin, Gribojedow, Congreve, T. St. Eliot, Brendan Behan, Lorca, Bulgakow, Witkiewicz, Gombrowicz, Hamsun, Georg Kaiser, Bronnen oder Canetti haben heute Seltenheitswert. Die Rolle des Dramatikers im Theater der Gegenwart ist nur noch marginal. Die gestaltende, das Gesicht des Theaters bestimmende Kraft ist inzwischen maßgeblich nur noch der Regisseur, nach dessen Vorlieben und künstlerischen Auffassungen sich Spielplan, Engagements, die dramaturgischen und räumlichen Gegebenheiten einer Inszenierung zu richten haben.

Dass es sowohl für die szenische Umsetzung des Dramentextes als auch für den Prozess der Aneignung einer Rolle bzw. Figur durch Schauspieler der Regie bedarf, steht außer Frage. Doch selbst in der Glanzzeit des Regietheaters eines Reinhardt, Fehling, Jessner, Hilpert oder Kortner galt immer die gelungene szenische Verkörperung des geschriebenen Textes, die jeweilige Interpretation als künstlerische Leistung, nicht die Dekonstruktion, originelle Text­einschübe oder den Sinn auf den Kopf stellende Änderungen. Als das Theater noch ein führendes Medium und auf Autoren angewiesen war, musste der Regisseur ein Ensemblekünstler sein. Berthold Viertel, zunächst Dichter und Dramaturg, der sich dann das Regiehandwerk erfolgreich aneignete, wies ihm die Funktion „eines Willenszentrums jenseits der Rampe“ zu.

Jeder spricht für sich allein

Die Form, Struktur und Sprachgestalt eines Stückes finden beim Prozess des Inszenierens kaum noch Beachtung, allenfalls sein Thema, die Ausschlachtbarkeit für aktuelle politische, meistens popkulturelle Zwecke. Nur noch selten werden Stücke gründlich gelesen und ihr umfänglicher dramatischer Reichtum ausgeschöpft. Sprachlich kühner dramatischer Dichtung wird nicht mehr zum Leben auf der Bühne verholfen, lediglich Stoffe, Konflikte, Themen werden aufgegriffen und als Bausteine eines Projekts benutzt. Für solche Projektarbeit eignen sich die Spannungselemente, Stoffe und Themen bekannter Romane beziehungsweise durch das Medium Film populär gemachter Romanhandlungen offensichtlich besser. Sie leisten jedenfalls weniger Widerstand, passen sich den Ideen, den Assoziations- und Erlebniswelten der Theatermacher leichter an.

Das politische Theater Erwin Piscators im Berlin der Weimarer Republik stand am Anfang solcher Versuche, dem Theater eine ideologische Bedeutung mit klarer poli­tischer Zielsetzung zu geben und die Stücke und ihre Autoren sowie die Schauspieler zu choreografierten Botschaftern seines „Programms“ zu machen: „Wir verbannten das Wort ‚Kunst‘ radikal aus unserem Programm, unsere ‚Stücke‘ waren Aufrufe, mit denen wir in das aktuelle Geschehen eingreifen, ‚Politik treiben‘ wollten.“

Alle bedeutenden Autoren, selbst ihm politisch Nahestehende wie Brecht und Franz Jung, kündigten Piscator bald die Gefolgschaft, zogen ihre Stücke zurück, weil er sie nur als Material zur szenischen Aufbereitung von Wirklichkeit, als eine andere Art von Zeitung begreifen wollte. Stücke dienten ihm als Mittel, Zeitgeschehen unmittelbar auf die Bühne zu bringen. Brecht bestritt, „dass die Piscatorbühne eine neue Art von Drama ermögliche“. Da ihn Stoffe immer mehr interessierten als die Struktur und sprachliche Form eines Dramas oder einer Komödie, entschied sich Piscator meistens für schlechte Stücke oder Romane, die er seinen Absichten dienstbar machen konnte. Seine Regiekunst bestand in der Kraft, die Essenz der Vorlage ins Zeitdokumentarische zu ballen.

Brecht, inzwischen mit marxistischer Theorie gewappnet und nicht mehr von der Tauglichkeit seines Spartakus-Stückes Trommeln in der Nacht für zeitgemäßes Theater überzeugt, war 1928 höchst erfreut, dass sich Piscator für diese Tragikomödie interessierte. Und war dann nicht wenig entsetzt über das, was der Regisseur über sein Inszenierungskonzept zu Protokoll gab: Ihm schwebte ein Stück über Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vor, über Berlin im Aufruhr, das Aufmarschieren der Noske-Truppen, das „Netz“ der Befehle und Kommandos, zu guter Letzt: „Das war zufällig dazwischen, dein ganzes Stück.“

An Widersprüchen, an Dialektik war Piscator nicht interessiert, er wollte Geschichte und den Kampf der Arbeiter ums tägliche Brot dramatisieren. Theater als pure Gegenwart. Brecht wollte Übersetzungen. Er plädierte zwar für „neue Stoffe“, aber sie müssten erst „alt gemacht“ werden, „sonst können sie vom Drama nicht erfasst werden“. Vom Drama sollten eben die Wirkungen ausgehen, nicht von Parolen, die von gedrillten Statisten und durch Regiekunststücke entfesselte Darstellermassen in den Zuschauerraum gebrüllt werden.

Dass immer mehr Romane für die Bühne adaptiert werden, hängt sicher auch damit zusammen, dass der Dialog als hauptsächliches konstitutives Bauelement im Drama keine wichtige Rolle mehr spielt und das Zusammenspiel so vielfach zugunsten monologischen Sprechens ins Mikrofon vernachlässigt oder völlig aufgegeben wird. In sehr vielen modernen Inszenierungen ist die zunehmende Loslösung des Dialogs von der Darstellung bestimmter innerer Konflikte zu konstatieren; klärende Gespräche werden vermieden, der Situationszusammenhang wird nur noch selten dialogisch zur Darstellung gebracht.

Für die epischen Gattungen war der Dialog, als direktes oder als berichtetes Gespräch, immer eine eher untergeordnete Erzählform. Erst als von Dichtern der Aufklärung und dann der Romantik die Forderung nach Auflösung der starren Gattungsgrenzen verfochten wurde und zum Beispiel Friedrich Schlegel Romane zu „sokratischen Dialogen unserer Zeit“ erklärte, drang Dialogisches stärker in den Roman ein.

Diderot und Wieland hatten damals die Gattung des Dialogromans neu kreiert, in dem die Handlung vollständig in Gespräche aufgelöst ist. In bedeutenden Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts übernahmen dialogische Formen dann wie einst im Drama konstitutive Aufgaben, sie traten mit klaren narrativen Kompetenzen in Erscheinung. Umgekehrt erlitt das Bühnendrama, das Hegel noch als „höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt“ empfunden hatte, durch die verschiedenartigsten Bemühungen, die Sprache des Theaters zur Sprache des Lebens werden zu lassen und soziale Wirklichkeit zu spiegeln, erheblichen Bedeutungsverlust. Es sei hier an die Theorie des modernen Dramas von Peter Szondi erinnert, in der der Literaturwissenschaftler darlegte, wie die Dramatiker des ausklingenden 19. Jahrhunderts, besonders Ibsen, Strindberg und vor allem Tschechow, sich um epische Ansätze und analytische Techniken für die Form ihrer Dramen bemühten, um eine Vergegenwärtigung zu erreichen, die zwar dramatisch ist, aber nicht jene Gegenwart des Hier und Jetzt anstrebt, die die Piscators dem Theater verordnen zu müssen glauben.

Die tiefere Wahrheit

Das moderne Drama, das auf die Gegenwart zielt, dem es eben um die Vergegenwärtigung des Vergangenen und um die Bewältigung „verfehlten Lebens“ gehen muss, um auch Utopisches oder die Sorge um Zukünftiges behandeln zu können, versagt sich laut Szondi der dramatischen Gegenwart: „Denn vergegenwärtigt werden im Sinne dramatischer Aktualisierung kann nur ein Zeitliches, nicht die Zeit selbst.“ Es nimmt deshalb epischen Charakter an. Dem epischen Theater Brechts ist der dramatische Atem nie ausgegangen, es ist durchaus bühnenwirksam.

In vielen Romanen lauern gewiss bühnentaugliche Stoffe, die genügend „dramatischen“ Charakter haben. Sie müssen aber von einem sprachmächtigen Dramatiker dramatisiert werden. Eines der besten Beispiele ist Jaroslav Haseks Roman Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Max Brod und Hans Reimann bearbeiteten ihn 1927 zur ulkigen Militärposse, nur ein „Offiziersburschenschwank“, wie Brecht fand, der dann für Piscator eine epische Theaterspielfassung schrieb, die in der Inszenierung mit Max Pallenberg auch gute Wirkung erzielte, obwohl sie aus rechtlichen Gründen gar nicht verwendet werden durfte. Brecht benutzte sie später für sein Stück Schwejk im Zweiten Weltkrieg.

Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz erwies sich in mehreren Bearbeitungen als bühnentauglich. Und immer wieder sind die Romane Dostojewskis, weil sie in der Sowjetunion verpönt waren und kaum gedruckt wurden, in Moskau und Leningrad, dann auch in Prag und Warschau erfolgreiche Theaterinszenierungen gewesen; schließlich auch Bulgakows verfemter Roman Meister und Margarita, der in der Bühnenadaption von Ljubimov jahrelang vom Moskauer Theater an der Taganka gespielt wurde. Die tiefe menschliche und soziale Wahrheit der Romane lieferte die in den so genannten Zeitstücken nicht vorhandene dramatische Sprengkraft.

Frank Castorfs erste Dostojewski-Adaptionen an der Berliner Volksbühne bewegten sich noch im Bannkreis solch aufwühlender, widerständiger Theaterarbeit, die mehr in Bildern und szenischen Vorgängen zum Ausdruck bringt, was nicht zur Sprache kommen darf. Zurzeit ist die Mode, Romane zu dramatisieren, nur der Versuch, Erfolgen hinterherzurennen und nostalgisch in Vergangenem zu schwelgen, Gegenwärtiges lieber nicht zu benennen. Romane als Revue. Nur kein Drama. Denn die bloße Umwandlung eines Romans in eine bunte Performance, in ein Bühnen-Event, ergibt kein Drama; sie gerät in der Regel nur zur illustrierenden Aneignung der Handlung in ein ganz subjektives, unverbindliches Hier und Jetzt.

­­­Keine Kunst, was nun?

Zwei Inszenierungen des die soziale Wirklichkeit des schlesischen Weberaufstands in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts spiegelnden Dramas Die Weber von Gerhart Hauptmann verdeutlichen das Dilemma: Volker Lösch, ein Spielwart, den die Politik mehr interessiert als das Drama, aktualisierte das Stück in Dresden vor ein paar Jahren durch radikale Kürzungen und Einschübe von Meldungen über Arbeitskonflikte, Entlassungen und Streiks heute. Zudem versuchte er durch das Mitwirken von „Betroffenen“ seiner Regiearbeit Authentizität zu verleihen. Lösch interpretierte die politischen Umstände, von denen Hauptmanns Drama handelt, nicht das Stück, dem er seine Meinungen aufpfropfte. Gegenüber den Laiendarstellern, die ihre Sache engagiert verfochten, hatten die Schauspieler kaum Chancen, weil ihre Verwandlungskunst mit dem Anspruch, authentisch in Erscheinung zu treten, schlecht vereinbar ist.

Vor wenigen Tagen inszenierte nun Michael Thalheimer im Deutschen Theater in Berlin Die Weber ganz konträr mit allzu viel Künstlichkeit. Die historische Distanz blieb hier gewahrt, es wurde nicht versucht, das Drama von außen aktuell zu machen, aber das innere Drama der Menschen durfte sich auch nicht entfalten. Alle Figuren blieben brüllende Chargen, Schachfiguren auf der Treppe, alle, auch die Unternehmer und deren Handlanger, erlebten und erlitten nur ihr blaues Wunder, indem ein Eimer mit Indigopulver über sie ausgekippt wurde. Ein reines Theaterkunstgewerbewunder. Und eine lautstarke Geschichtsshow, überdeutlich von aller Realität entrückt. Die Figuren erhielten keine Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen, miteinander ins Spiel zu kommen.

Stücke verlangen von ihren Interpreten eine gewisse Unterordnung; sie wollen aufgeführt werden, zum Zuschauer sprechen, auf ihn wirken, sein Herz und seinen Verstand erobern. In „Projekte“ aber können die Macher viel mehr von dem, was sie beschäftigt, was sie gerade erlebt, gelesen oder gesehen haben, einbringen; sie hören dem Stück nicht zu, verkörpern zu wenig die Figuren des Stücks, weil sie nur noch wissen wollen, was das Stück mit ihnen, mit ihren Schwierigkeiten und Problemen des Lebens zu tun hat.

Der Dialog im Drama schafft Distanz, ermöglicht Verständigung, stiftet schließlich Erkenntnis. Das gegenwärtige Theater scheut das Drama, versteht sich viel eher als Event, es will Nähe, braucht den Fan, es will beeindrucken, Botschaften übermitteln und authentisch sein. Künstlichkeit ja, aber bitte keine Kunst.

Klaus Völker, geboren 1938, ist Autor und Dramaturg, war Rektor der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Er lebt in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er eine erste Monographie über das Berliner Kabarett der Komiker 1924-1950, Edition Text und Kritik, München

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