Greta Thunberg und ein Kommentar-Rekord

#fridaysforfuture Ein Beitrag über die Schülerstreiks #fridaysforfuture hat in der Freitag-Community für Wirbel gesorgt und eine tagelange Debatte ausgelöst.

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Lange gab es keine so ausgiebige Debatte (bis dato 435 Kommentare) wie zum Beitrag von Gunnar Jeschke „Das Phänomen Greta Thunberg“. Dass die kleine Schwedin und #fridaysforfuture am Ende kaum noch eine Rolle spielten, lag wohl an der Grundsatzdebatte, die sich dabei entspann. Und die hatte es in sich! Dass trotz zum Teil prinzipieller Kontroversen ein sachlicher Ton die Diskussion beherrschte, setzt einen Lichtpunkt in der Nacht der heutigen Debatten-Unkultur. Hochachtung vor allem dem Autor, der die Diskussion bis zum Ende begleitete.

Da aber, wie gesagt, das eigentliche Thema „Schülerstreiks“ ein wenig zu kurz kam, möchte ich hier noch einmal ein paar Gedanken aufgreifen.

Den Schülerprotesten wird vom Autor und von einem Teil der Kommentatoren infantile Naivität bescheinigt. Man fokussiert sich dabei auf die Person Greta Thunberg. Aber den Schülern geht es bei ihren Freitagsprotesten überhaupt nicht darum, der Missionarin Greta nachzulaufen, diese jungen Menschen bewegen ehrliche Sorgen. Ich verweise nur mal auf dieses Bild:

Eingebetteter Medieninhalt

Man kann doch den Demonstranten keine Naivität unterstellen, nur weil sie die Politik zum Handeln auffordern. Denn wenn es infantil und naiv wäre zu glauben, dass Politik zum Handeln bewegt werden kann, stünde der Sinn jeglichen Protests in Frage. Da bin ich ausnahmsweise näher beim „Mainstream-Medium“ ZEIT ONLINE, sie schreibt: „Dass die Regierungen so wenig tun, macht das Engagement der Jugendlichen dringlich. Die Zögerlichkeit auch der früheren Umweltministerin Merkel zeigt sich in ihrem Lob ohne Folgen: so als sei es nicht die Politik, die nun umsteuern müsse; so als gehe es um Privatbefindlichkeiten, nicht um Strukturen, Staaten und Macht; und auch so, als müsse man Geduld haben“.

Ich glaube schon eine gewisse Nervosität der Politik erkennen zu können, denn sie spürt: Was da gefordert wird, ist nicht weniger als die glaubwürdige Abkehr von Primat und Diktat des Wachstums. Dafür gibt es jedoch weder Plan noch Ziel, im Gegenteil, man wähnt sich auf der sicheren Seite, wenn die ethischen und ökologischen Imperative dem unterworfen werden, was wirtschaftlich wünschenswert ist. Also geht man in die Offensive und lobt das zivilgesellschaftliche Engagement der Protestierenden. Nach der Kanzlerin hat sich nun auch der Bundespräsident solidarisiert. „Freue mich, dass ihr euch einsetzt“. Das ist so, als würde Greenpeace von der Wahlfangflotte gelobt.

Eine andere Facette der Debatte erhebt den Vorwurf bzw. die Forderung, jeder müsse bei sich selbst anfangen, wozu aber letztendlich keiner bereit ist. „Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.“ - Als dieses Sprichwort erdacht wurde, war noch nicht daran zu denken, was heute Realität ist: Wir alle sitzen im Glashaus. Jeder vergeht sich in irgendeiner Weise an seiner Umwelt, weil er zu viel Fleisch isst, zu schnelle Autos fährt, Kreuzfahrten macht … Keiner dürfte also das Recht haben, mit Steinen zu werfen, und vielleicht ist das ja auch der Grund, warum es in den letzten dreißig Jahren auf unseren Straßen so ruhig geworden ist. Jeder fühlt, er hat selbst Dreck am Stecken, und da er den Stecken nicht als Einziger reinigen will, verzichtet er lieber darauf, es von anderen zu verlangen. Aber eigentlich könnte er sagen: Politik, zwinge uns dazu, dann werde auch ich bereitwillig mit sauberem Stecken einhergehen. Den Meisten scheint das reine Utopie zu sein, weil sich die Mehrheit nicht dazu bewegen lässt. Gunnar Jeschke schreibt im Schlusssatz seines Beitrags: „Das Ganze [der Schulstreik] mag sich in der Echokammer derjenigen, die sich für intellektuelle Eliten halten, ganz nett anfühlen. Eine gesellschaftliche Mehrheit wird es dafür nicht geben, bei Weitem nicht.“ Ja, aber eben deshalb ist ziviler Ungehorsam nötig. All jene, die sich auf der Seite der Mehrheit befinden, brauchen nicht ungehorsam zu sein.

Als hätte er den Widerspruch vorausgeahnt, beginnt Gunnar Jeschke seinen Beitrag mit den Worten: „Genau das ist ein Kennzeichen kritischen Denkens. Ein Sachverhalt wird von verschiedenen Seiten betrachtet. Die aktuelle Annäherung an die Wahrheit wird im Diskurs gefunden. Sie steht nicht schon unabhängig von Argumenten fest.

Die Krux ist, dass wir in der politischen Debatte zum großen Teil mit normativen Begriffen arbeiten müssen, um uns zu verständigen. Ideologie, Toleranz, Dummheit, Würde, Gerechtigkeit – alles Begriffe, die nicht zu definieren sind, die Jeder mit einem anderen Maßstab versehen kann. Für eine Debatte, vor allem wenn sie schriftlich ausgetragen wird, bringt das große Probleme mit sich. Sehr wahrscheinlich ist, dass zwei sich streiten, obwohl sie das gleiche Ziel haben, aber von verschiedenen Begriffsbestimmungen ausgehen.

Zwei Mathematiker streiten über den Satz des Pythagoras. Weil die lange Seite des Dreiecks in der Sprache des Einen Hypotenuse heißt und in der Sprache des Anderen mit Kathete bezeichnet wird, können sie keine Einigung finden.

Im Kommentar schrieb ich: „Die Jugendlichen demonstrieren […] völlig gewalt- und ideologiefrei. Sie fordern keine Utopien, sondern einzig und allein, dass die Politik ihre Prioritäten ändert.“ Gunnar Jeschke antwortete darauf: „Es kann natürlich sein, dass Sie die grüne Ideologie gar nicht mehr bemerken, so wie ein Fisch das Wasser nicht mehr bemerkt.“ Gibt es „grüne Ideologie“?, und wenn ja, ist die der Mainstream, dem man ein Pendant entgegensetzen muss? Die Grünen werden das ganz anders sehen, sie werden auf die Wachstumsideologie verweisen, der sie im Interesse der Gemeinschaft entgegentreten müssen. Was ist überhaupt „Ideologie“? Doch nicht das Vorhandensein von Grundüberzeugungen an sich. Ideologisch handelt, wer unter dem Zwang seiner Grundüberzeugung irrationale Entscheidungen trifft.

Wie sich eine Bewegung ideologisiert, haben die 68er beispielhaft gezeigt. Sarah Dustra schreibt in ihrem sehr empfehlenswerten Blog an die Adresse der Protestler bei Friday for Future:

Vielleicht werdet ihr ja die neuen 68er. – Oder lieber doch nicht! Die haben nämlich so einiges falsch gemacht, haben sich ideologisch vereinnahmen lassen von Radikalen und Emporkömmlingen. Meine Eltern haben immer bedauert, dass sie damals diesen Leuten auf den Leim gingen: „Wären wir nicht so bescheuert gewesen, hüpfend und Ho-Ho-Ho-Chi-Minh rufend durch die Straßen zu ziehen, hätten wir vielleicht auch die Sympathie der Älteren gehabt, hätten mit ihnen über unsere Ziele und Träume reden können. Dann wäre wohl alles anders gekommen.“

Ein Widerspruch ist mir im Laufe des Kommentargeschehens aufgefallen. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit des Umsteuerns in der Umwelt- und Klimapolitik wird von den Kommentatoren sehr unterschiedlich beurteilt. Es steht jedem frei, sich auf diejenigen wissenschaftlichen Grundlagen zu berufen, die er für überzeugend hält. Aber dann sei die Frage erlaubt: Wie kann ich das Protestmittel „Schülerstreik“ bewerten, wenn ich mit dem Inhalt des Protests nicht einverstanden bin? In diesem Fall ist es doch völlig egal, ob Schüler oder Wissenschaftler protestieren, ob an Sonn- oder Werktagen, ich werde diesen Protest nie für sinnvoll halten, wenn ich dessen Anliegen nicht teile. Das führt dann dazu, dass fremdes Engagement herabgewürdigt wird, wenn es die eigenen Prioritäten nicht angemessen vertritt. Jens Berger schreibt dazu in einem Beitrag auf den Nachdenkseiten:

Die Friedensbewegung kritisiert die Klimaschützer, weil sie mit ihrem Einsatz für das Klima angeblich von wichtigeren Dingen ablenken wollen. Die sozial Engagierten kritisieren die Friedensbewegung, weil sie mit ihrer Fokussierung auf den Weltfrieden angeblich die soziale Lage im Land verdrängen würde. Woraufhin Klimaschützer und Friedensbewegung die sozial Engagierten ermahnen, dass es in einer kaputten Umwelt ohne Frieden auch keine soziale Gerechtigkeit geben kann. Dass alle diese Themen zusammenhängen und man nicht gegen, sondern zusammen mit den anderen „Interessengruppen“ kämpfen sollte, geht dabei in den täglichen Flame-Wars und Shitstorms offenbar komplett unter.

Ich jedenfalls freue mich, dass die Proteste nicht abreißen, und sehe dem weltweiten Streik am 15. März mit Spannung entgegen. (Streikorte in D siehe hier)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus Fürst

Es ist die unüberwindliche Irrationalität, die dem Menschen den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit versperrt.

Klaus Fürst

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