Über die selbstgerechten Dogmen der Linken

Zwei Bücher Zwei Bücher, von Sahra Wagenknecht und Judith Sevinç Basad, befassen sich mit den am heißesten diskutierten Themen unserer Zeit.

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Mitglieder des Landesverbandes NRW der Linken haben ein Parteiausschlussverfahren gegen Sahra Wagenknecht beantragt. Den sich in solchen Aktionen spiegelnden Zeitgeist untersuchen zwei fast zeitgleich erschienene Bücher, die viel Zündstoff in die bereits aufgeheizte Debatte über Rassismus, Identitätspolitik und Cancel Culture bringen. Entsprechend frenetisch werden sie bejubelt oder eben verteufelt. Die Forderung nach Wagenknechts Parteiausschluss ist da nur die vorläufige Spitze des Eisbergs.

Sahra Wagenknecht
Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt
Campus Verlag Frankfurt (Main) April 2021

Judith Sevinç Basad
Schäm dich! Wie Ideologinnen und Ideologen die Welt in Gut und Böse einteilen
Westend Verlag Frankfurt (Main) Mai 2021

Auf meinem Blog ZukunftsAspekte wurden beide Titel ausführlich rezensiert. Für alle, die sich ein erstes Bild machen möchten, hier eine kurze Zusammenfassung.

Judith Sevinç Basad sucht die Ursachen in der menschlichen Psyche, Moral und Denkweise, was sie mit sehr vielen Beispielen untermauert. Für Sahra Wagenknecht sind die sozioökonomischen Verhältnisse Ursache allen Übels; diese werden einer gründlichen Analyse unterzogen. Beide Bücher zusammengenommen ergeben ein Zeitbild, das es in sich hat.

Liest man, was andere Rezensenten schreiben, stößt man sehr oft auf die Floskel: „auch wenn ich nicht jede These der Autorin unterstützen kann …“. – Gibt es denn irgendein gesellschaftskritisches Buch, dessen Thesen ich komplett unterstütze? Mitnichten. Aber das spiegelt die Verzagtheit wider, den fehlenden Mut, sich hinter die Position eines Autors zu stellen, dessen Aussagen einen Shitstorm in den sozialen Medien erwarten lassen. Um genau diesen Zustand unserer Gesellschaft kreisen die Gedanken der beiden Autorinnen.

Sahra Wagenknecht zeichnet das Bild eines neuen Linksliberalismus. Sie betont, „dass der moderne Linksliberalismus nicht mit der geistig-politischen Strömung verwechselt werden darf, die im 20. Jahrhundert unter diesem Namen firmierte.“ Die Linksliberalen, die sie beschreibt, sind ihrer Meinung nach „weder links noch liberal.“ Und mit denen geht sie hart ins Gericht:
„Dominiert wird das öffentliche Bild der gesellschaftlichen Linken heute von einem Typus, den wir im Folgenden den Lifestyle-Linken nennen werden, weil für ihn im Mittelpunkt linker Politik nicht mehr soziale und politökonomische Probleme stehen, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten. […] Es ist die Selbstzufriedenheit des moralisch Überlegenen, die viele Lifestyle-Linke ausstrahlen, die allzu aufdringlich zur Schau gestellte Überzeugung, auf der Seite des Guten, des Rechts und der Vernunft zu stehen. […] Eine moralisch unantastbare Haltung zu zeigen, ist für ihn wichtiger, als seine Anliegen auch umzusetzen. Die richtige Gesinnung wiegt schwerer, als das Richtige zu tun.“
Mit Liberalismus im ursprünglichen Sinn hat das wenig zu tun, weshalb die Autorin diese Strömung als „Linksilliberalismus“ bezeichnet. Der Sturmlauf der Linken gegen diesen Angriff und die Verunglimpfung ihrer Ideale war zu erwarten. Aber gerade diese Ideale werden von beiden Autorinnen sehr kritisch hinterfragt.
So beschäftigt sich Judith Sevinç Basad mit dem angeblich ausgeprägten Rassismus in der westlichen Welt, welchem die Linke den Kampf angesagt hat. Die Autorin erkennt die Existenz einer "rassistischen Struktur" nicht an. „Vielmehr gibt es eine Fülle von Einzelpersonen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Werdegängen, Herkunftsgeschichten und persönlichen Erfahrungen.“ Deren soziale Probleme lassen sich nicht auf simple, rassistisch motivierte Zuordnungen zurückführen. Doch für die Social-Justice-Warriors ist es der bequemste Weg, die Herrschaft der alten weißen Männer für alles verantwortlich zu machen.

Die Frage, wie der neue Linksliberalismus entstanden ist, führt zu dem Thema, das Wagenknechts Kernkompetenz darstellt: die sozioökonomischen Verhältnisse. Sie lässt sich deshalb die Gelegenheit für eine gründliche Analyse, insbesondere der Auswirkungen des Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft durch Automatisierung, Globalisierung und Outsourcing, nicht entgehen. Man könnte vermuten, dass damit das Buch auf die benötigte Länge gebracht werden sollte, denn diese Zusammenhänge sind hinreichend bekannt und in der Literatur bereits erschöpfend behandelt. Andererseits ist es ja so, dass jedes Buch auch Leser findet, die sich mit diesen Dingen noch nie eingehend beschäftigt haben und erst einmal an die Zusammenhänge herangeführt werden müssen. Auch ist zu bedenken, dass wichtige Erkenntnisse erst durch die gründliche Analyse der sozialökonomischen Situation möglich werden. Auf diesem Wege führt sie, ebenso wie Sevinç Basad, die Social-Justice-Theorien ad absurdum:
„In dieser Logik ist ein weißer heterosexueller Postzusteller mit 1000 € netto im Monat, der abends Medikamente nehmen muss, weil sein Rücken nach der Plackerei schmerzt, privilegiert gegenüber der Tochter einer aus Indien zugewanderten wohlhabenden Arztfamilie oder dem homosexuellen Sohn eines höheren Beamten, der gerade sein Auslandssemester in den USA beendet hat.“

Auch in der Frage, wohin das alles führt, sind sich die beiden Autorinnen einig. „Den Aktivisten geht es […] um einen Kulturkampf: Die Welt soll in »Gut« und »Böse«, in Täter und Opfer, in Privilegierte und Nicht-Privilegierte, in Weiße und Schwarze, Mann und Frau, Deutsche und Migranten, Heterosexuelle und Queers eingeteilt werden.“, meint Judith Sevinç Basad. „Damit wird aber nur eines erreicht: die Spaltung der Gesellschaft.“ Und nach Sahra Wagenknechts Meinung „tragen die linksliberalen Kulturkämpfe zur Spaltung und Polarisierung unserer Gesellschaft mindestens in gleichem Maße bei wie die Hetzreden der Rechten.“ Damit einher geht die Schwächung der Linken, der Verlust ihrer traditionellen Wählerschaft. Dass immer mehr Menschen rechte Parteien wählen, zeugt Wagenknechts Meinung nach nicht von rechter Gesinnung, sondern spricht für eine „massiv enttäuschte Bevölkerung und für das große Versagen der Linken, diese sozialökonomische linke Mehrheit politisch zu erreichen und ihr ein progressives Programm und eine Politik anzubieten, in der sie sich wiederfinden kann.“

Was beide Bücher vermissen lassen, sind Antworten auf die Fragen: Wie kommen wir da raus? Wie können wir’s besser machen? Das gilt vor allem für Sahra Wagenknecht, die ja ein „Gegenprogramm“ angekündigt hatte. Aber abgesehen von sporadisch eingestreuten Vorschlägen, etwa zur Verbesserung des Bildungssystems oder zur „Einführung einer gelosten Kammer als fester Bestandteil des demokratischen Systems“ fehlt jeglicher Ansatz für eine systematische Programmatik. Auch bei ihrem Vorschlag für ein neues wirtschaftliches Eigentumsrecht bleibt sie die Antwort schuldig, wie so etwas konkret geschaffen werden könnte.

Die beiden Bücher haben in den Medien viel Beachtung gefunden. Dabei fällt auf, dass die beschriebenen Zustände oft kleingeredet werden, dass gesagt wird, Gesinnungsterror und Cancel Culture seien keine strukturellen Probleme, sondern Einzelfälle. Urteilen Sie selbst, nachdem Sie die geballte Ladung „Einzelfälle“ gelesen haben, die in den Büchern geschildert werden.

(Ausführliche Rezensionen auf ZukunftsAspekte )

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus Fürst

Es ist die unüberwindliche Irrationalität, die dem Menschen den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit versperrt.

Klaus Fürst

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