Wir sind das System!

Mehrheit oder Minderheit? Was ist das System? Es ist kein abstraktes Gesellschaftsmodell, sondern Ausdruck der Denk- und Verhaltensweisen der in ihm lebenden Menschen.

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Wir sind das Volk!“ Das wird gern proklamiert, besonders von jenen, die nun wirklich nicht für sich in Anspruch nehmen können, das Volk zu repräsentieren.

Wir sind das Volk“ vermittelt etwas Positives, Kämpferisches: man stellt klar, dass sich die Politik in bestimmten Fragen vom Willen des Volkes entfernt, und dass man sich das nicht mehr gefallen lassen will.

Nun stellen wir uns kurz vor, es gibt irgendwo eine Demonstration gegen die Auswüchse des kapitalistischen Systems, und da formt sich eine Gegendemo, deren Teilnehmer rufen:

Wir sind das System!

Schräge Vorstellung, oder? Obwohl sie damit völlig Recht hätten! Aber System ist negativ besetzt, so wie Bürokratie oder Nutznießer. Niemand möchte dazugehören und das auch noch kundtun. Nur ist das System eben nichts Abstraktes, Anonymes; was immer man darunter versteht, seine Ausprägung erfährt es durch konkrete Menschen. Darunter befinden sich natürlich solche, die das System ablehnen, doch die sind in der Minderheit. Immer! Sonst könnte sich das System nicht halten. In demokratisch verfassten Gesellschaften ist das System Spiegelbild der Mehrheit.

Man kann es kaum besser ausdrücken als W. Endemann hier kürzlich in einem Kommentar:

Institutionen können nicht wesentlich besser sein als die, die sich ihrer bedienen.

Kritik am System muss also bei den Menschen ansetzen, muss mit der Frage beginnen, warum sie sich so zu ihm hingezogen fühlen.

»Die ganze Kritik am Kapitalismus krankt daran, dass sie zwar eine Fülle seiner Mängel und Fehler zutreffend erkannt und beschrieben hat, aber nicht wahrhaben will, […] dass er sich in den Hirnen und Herzen von mittlerweile Milliarden von Menschen eingenistet hat und deren Denken, Handeln und Fühlen von Grund auf prägt. Diese Menschen mögen den Kapitalismus nicht lieben, möglicherweise verachten oder hassen sie ihn sogar. Aber sie können und wollen nicht von ihm lassen.«[i]

Dieses Herangehen Meinhard Miegels mag denjenigen nicht gefallen, die auf der Suche nach klaren ideologischen Positionen und Feindbildern sind. Für sie ist schwer nachvollziehbar, dass man, um den Kapitalismus zu attackieren, ihn erst gründlich analysieren muss, wozu eben auch gehört, seine Vorzüge herauszuarbeiten. Wenn wir die Systemfrage stellen, fragen wir dann nicht in Wirklichkeit nach den Menschen – nicht nur nach den Kapitalisten – nach all den Menschen, die in und mit diesem System leben, die es formen und sich selbst von ihm formen lassen? Die Bereitwilligkeit, mit der sie sich formen lassen, erwächst aus ihren Schwächen, die lange vor dem Kapitalismus in der Welt waren, aber erst von ihm so richtig bedient werden. Unsere großen Aufklärer kannten noch nicht viel vom Kapitalismus, wohl aber von den tiefsitzenden menschlichen Schwächen. »Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.« Mit diesen Worten macht Kant [ii] schon sehr deutlich, wie sich das spätere kapitalistische Gesellschaftsmodell jener Neigung der Menschen, sich durch Bezahlung aus der Affäre zu ziehen, bestens andient. Alles soll nach Möglichkeit käuflich sein, auch Verantwortung und Gewissen. Kants Fazit:

Es ist so bequem, unmündig zu sein.

Zwei Jahrhunderte später haben wir nun das adäquate System, denn es kommt, wie Miegel schreibt, »der großen Mehrheit zupass und bedient, wenn schon nicht ihre edelsten, so doch ihre stärksten Triebe. Das bornierte, sprich geistig beschränkte Streben nach Profit, soll heißen nach Vorteil und Gewinn, ist, anders als seine Kritiker meinen, nicht eine seiner Schwächen, sondern eine weitere Stärke. Denn das versteht jeder auf Anhieb: Konzentriere dich auf deinen eigenen Vorteil, und versuche, ihn gegen andere zu verteidigen.«

Regine Beyß erzählt in einem ihrer Beiträge die folgende Begebenheit:

Bei der Demo kam mir ein Mann mit seinem kleinen Sohn entgegen. Er sagte: “Das sind alles Deppen, die nichts zu tun haben.” Leider fehlten mir die Worte, um direkt darauf zu kontern – wie so oft. Würde ich ihn noch einmal treffen, würde ich ihm Folgendes sagen: Man kann sich meiner Meinung nach mit sehr viel weniger sinnvollen Dingen beschäftigen, als für eine bessere Welt auf die Straße zu gehen. Wir haben in Wahrheit nämlich sehr viel zu tun. Und es wäre schön, wenn Männer wie Sie sich daran beteiligen würden, anstatt aus der Entfernung über uns zu urteilen und die Welt einfach so zu nehmen, wie sie ist.

Der Mann, von dem da erzählt wird, ist Bestandteil des Systems, gehört offenbar zur Mehrheit derer, die sich in ihm aufgehoben fühlen. Das, was er zu seinem Sohn sagt, entspricht der Denkart einer Gesellschaft, die sich nicht in Frage stellt. Da sieht er nun dieses Häufchen von Demonstranten, die sich eben jener Denkart verweigern. Will er an seinem Weltbild nicht rütteln, muss er sich von denen distanzieren. Das kann er argumentativ tun, oder, was viel weniger Mühe macht, indem er sie als Deppen bezeichnet. Damit weist er nicht nur die Verantwortung für das Hier und Heute von sich, er sorgt auch dafür, dass sein Sohn sich morgen ebenso verhalten wird. – Hat vielleicht schon sein Vater ihm die „Deppen“ gezeigt, die damals gegen Kernkraft oder Mittelstreckenraketen demonstrierten? Die für uns wichtigste Frage aber ist: hätte die junge Demonstrantin ihn mit dem, was sie ihm gerne gesagt hätte, wirklich beeindrucken können? Vermutlich nicht; aber warum ist diese Frage so wichtig? Wenn wir überlegen, wie sich dieses System überwinden lässt, kommen wir nicht umhin, die Frage zu stellen, wie sich die Menschheit überreden lässt, von dem Abschied zu nehmen, was ihrem Wesen anscheinend so entgegenkommt. Dieses Überreden kann nur gelingen durch die überzeugende Beweisführung, dass ein Festhalten am Bisherigen einfach nicht möglich ist. Das Aufgeben des Bisherigen wäre aber mit dem Verzicht auf Annehmlichkeiten verbunden, Annehmlichkeiten, die wir uns auf Kosten der Benachteiligten dieser Welt und der künftigen Generationen verschaffen. Die Entscheidung jedes Einzelnen, ab sofort für eine neue Gesellschaft einzutreten, müsste also eine Vernunftentscheidung sein. Womit wir beim eigentlichen Problem wären, denn ein Sieg der Vernunft kann, um mit Brecht zu sprechen, nur ein Sieg der Vernünftigen sein. Und an denen hapert’s.

Vorgaben müssten also aus der Politik kommen, doch wie soll das funktionieren in einer Demokratie? »Der Wähler ist kein Masochist. Er wählt nicht die Partei, die seinen Abstieg verspricht.«, sagte der Soziologe Ulrich Beck, und sah darin ein Haupthemmnis für die Überwindung der globalen Ungleichheit.[iii] Abstieg – ja, das würde es in der Tat bedeuten, wenn man die Welt mit der Konsumentenbrille betrachtet, und das ist nun mal die Sichtweise der Mehrheit in den „entwickelten“ Industrieländern. Deshalb muss die Politik versagen in ihrer Funktion des gesellschaftlichen Strategen. Sie kann keine Strategie entwickeln, die den Erfordernissen der Zukunft gerecht wird, weil der Wähler nicht bereit ist, diese Erfordernisse zu akzeptieren.

Womit wir wieder bei dem Dilemma wären, das uns stets verzweifeln lässt. Das aber auch Anlass gibt, all denen Respekt zu zollen, die der Aussichtslosigkeit trotzen, sich immer wieder fragen, wozu das alles, und sich doch immer wieder aufraffen und weiterschreiben – weil sie nicht anders können.


[i] Meinhard Miegel: „Die unerwiderte Liebe der Menschen zum Kapitalismus“ FAZ 02.02.2015

[ii] Immanuel Kant „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784)

[iii] Ulrich Beck „Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen“ Frankfurt: Suhrkamp 2008

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus Fürst

Es ist die unüberwindliche Irrationalität, die dem Menschen den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit versperrt.

Klaus Fürst

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