Ist ein Glas Wein eines zu viel?

Der Trinker Nein, meint unser Kolumnist. Aber die Ausschweifung verkehrt alle positiven Effekte ins Gegenteil. Nur, wo beginnt die Ausschweifung?
Ist ein Glas Wein eines zu viel?

Illustration: Otto

Wer in der Runde ein Glas Wein hebt, wird zumindest rhetorisch zum Menschenfreund: Er wünscht Santé oder Salute, sagt Na Sdarovje, Cheers oder Zum Wohl. Seit der Antike bekundet die Geste, dass man auf die Gesundheit der Anwesenden trinkt, und sie signalisiert die Überzeugung von der entsprechenden Güte des Getränks.

Das philanthropische Prosit ­erscheint aus nüchternem Blickwinkel allerdings als zynisch: ­Offenkundig ist es der Genuss ­eines alkoholischen Getränks mit Sucht- und Schädigungspoten­zial, der von solchen Wünschen begleitet wird. Beschönigt der Trinkspruch nicht eine verbrei­tete menschliche Schwäche: die dem Verlangen nach seliger ­Sorglosigkeit geschuldete Neigung zum kollektiven Selbst­betrug?

In einem Pastoralbrief an Timotheus schrieb der Apostel Paulus: „Trinke nicht nur Wasser, sondern nimm auch etwas Wein!“ Der Empfänger sollte das nicht als Gönnergeste, sondern durchaus als Mahnung verstehen. Hippokrates und Galen nutzten Wein zur Schmerz- und Wundbehandlung, bei Darmproblemen sowie zur Beruhigung und Kräftigung ihrer Patienten. Hildegard von Bingen verwendete ihn in Elixieren zur Ausbalancierung der körpereigenen Chemie. Paracelsus und Schroth schließlich entwickelten regelrechte Wein­kuren, und noch die Apotheken des 19. Jahrhunderts führten Wein als Therapeutikum. Erst die moderne Pharmazie strich ihn aus den Listen heilsamer Mittel und predigte fortan Abstinenz. Und das, obwohl statistisch die Lebensgewohnheiten moderner Mediziner durchaus eine Vorliebe für Wein dokumentieren.

In den letzten Jahren ist es zu einer Rückbesinnung auf die förderlichen Wirkungen des Weingenusses gekommen. Man folgt zunehmend Hinweisen, die die Erfahrungen alter Heilkundler wissenschaftlich zu bestätigen scheinen. Medizinisches Interesse erregte 1991 das french paradox: Obwohl in Südfrankreich fettreich gegessen, viel geraucht, wenig gejoggt und regelmäßig Wein getrunken wird, ist die Quote tödlicher Herzkranzgefäßerkrankungen dort verhältnismäßig niedrig. Man fand heraus, dass der hohe Polyphenolgehalt regionaltypischer Rotweine im Organismus die Bildung gefäßverengender Hormone blockiert und die Blutfette durch Senkung von LDL-Cholesterin positiv verändert.

Da etliche Studien diesen Befund bestätigten, gilt maßvoller Weingenuss seitdem als mögliche Prophylaxe gegen arteriosklerotische Prozesse sowie durch sie bedingte Infarkte oder Schlaganfälle. Weitgehend anerkannt sind neben dem durch Salicylate bedingten Aspirin-Effekt des Weins auch seine antioxidative Wirkung gegen Zellschäden (ein anti-aging-Faktor) sowie sein Schutzeffekt gegen Osteoporose. Vieles spricht sogar dafür, dass der im Wein gelöste Feststoff Resveratrol, den die Beere zu ihrem Schutz produziert, ein Potenzial aufweist, das bestimmte Krebsrisiken und die Progression von Demenz einzudämmen vermag. Angesichts dessen wird verständlich, warum der Chefepidemiologe der University of Boston, Professor Ellison, die Überzeugung vertritt: „Ein Tag ohne ein Glas Wein ist ein Risiko für unsere Gesundheit.“

Natürlich signalisiert spätestens der Kater, dass ein bacchanalischer Umgang mit Wein auch dunkle Seiten hat, weil sein Genuss off limits alle positiven Effekte ins Gegenteil verkehrt. In vino sanitas gilt deshalb nur bis zu einer Flasche pro Tag und Paar.

Sofern nicht weitere gute Gründe den Verzicht auf Alkohol nahe legen, sind also zumindest drei Gläser Wein keines zu viel. Wer sie trinkt, sollte sich tunlichst um Machart und Bekömmlichkeit seines Getränks kümmern, ansonsten braucht er sich nicht zu sorgen. Und auch das kann sehr gesund sein.

Klaus Kosok beantwortet einmal im Monat alle Fragen rund um den Weingenuss. Zuletzt: Wer ist der Primus unter deutschen Weinen? Haben Sie eine Frage an unseren Trinker? Dann stellen Sie sie hier.

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