Christliches Abendland – was bedeutet das?

Das Recht der Fremden! Nazis, Pegida, Rassisten wollen das christliche Abendland gegen Fremde verteidigen. Doch: Christliche Ethik steht für Solidarität und Offenheit gegenüber Fremden!

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Flüchtlinge an der serbisch-ungarischen Grenze
Flüchtlinge an der serbisch-ungarischen Grenze

Bild: ANDREJ ISAKOVIC/AFP/Getty Images

"Du aber sollst vor dem Herrn, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen."

Ja, dieser Text klingt nicht nur so, er ist tatsächlich der Bibel entnommen. Es ist ein Text aus dem Alten Testament, nämlich die Verse 5 bis 9 aus dem 26. Kapitel des 5. Buches Moses. Und es ist nicht irgend ein Text. In der alttestamentlichen Wissenschaft wird dieser Text als kleines geschichtliches Glaubensbekenntnis bezeichnet. Dieser Text wurde zu seiner Zeit gesprochen, wenn die Israeliten nach der Ernte ein Zehntel dessen, was sie geerntet hatten, als Opfer abgegeben haben.

Dieses Opfer ist allerdings nicht für eine abstrakte Gottheit gedacht gewesen, sondern für soziale Zwecke, wie im 12. Vers dieses Kapitels zu lesen ist:

"Wenn du im dritten Jahr, dem Zehntjahr, alle Zehntanteile von deiner Ernte vollständig ausgesondert und für die Leviten, Fremden, Waisen und Witwen abgeliefert hast und sie davon in deinen Stadtbereichen essen und satt werden, (...)."

Ausdrücklich sind hier die Fremden gleichrangig mit Waisen und Witwen genannt. Gerade auch die Fremden sollen aus diesen Opfergaben versorgt werden, nicht nur die "eigenen" Leute.

Sinn dieser alttestamentlichen Opfergabe war eine Umverteilung von denen, die genug hatten, zu denen, die nicht genug zum Leben hatten. Dieser alttestamentlichen Opfergabe entsprechen heute die Steuern, aus denen im Zuge einer gesellschaftlichen Umverteilung die mit versorgt werden, die aus eigener Kraft nicht für sich selbst sorgen können und auf die Hilfe anderer angewiesen sind.

In diesem knappen Glaubensbekenntnis Israels wird mit wenigen Worten eine Schlüsselerzählung des alttestamentlichen Glaubens nachgezeichnet: Es ist die Geschichte von Joseph, der aus Eifersucht von seinen Brüdern an eine vorbeiziehende Karawane verkauft wird. Mit dieser Karawane gelangt er nach Ägypten, wo er eine politische Kariere am Hofe des Pharao beginnt.

Einige Jahre später kommt es im Land seiner Familie aufgrund einer Dürre zu einer Hungerkatastrophe. Angesichts der aussichtslosen wirtschaftlichen Lage flüchtet die Familie nach Ägypten und trifft dort Joseph wieder. Joseph nimmt nicht Rache an seinen Brüdern, sondern gibt seiner der Hungersnot entflohenen Familie eine neue Existenzgrundlage in ihrer neuen Heimat.

Die Erzählung fährt damit fort, dass etliche Jahre später die Nachkommen von Joseph und seiner Familie vom dann herrschenden Pharao zur Sklavenarbeit gezwungen werden, bis Moses sich zu ihrem Anführer entwickelt und die Nachkommen Josephs und seiner Familie aus der Sklaverei in Ägypten befreit.

Diese Erfahrungen von Hunger, Flucht, Hilfe, Unterdrückung und Rettung aus der Versklavung sind zentrale Elemente des alttestamentlichen Glaubens. So sehr, dass sie im Mittelpunkt des kleinen geschichtlichen Glaubensbekenntnis stehen. Und ebenso sind diese Erfahrungen in eine weiteren Schlüsseltext des Alten Testaments eingegangen, in das erste der zehn Gebote:

Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus (2.Moses 20,2).

Mit diesen Erfahrungen wird durchgehend im Alten Testament die Pflicht zum Teilen und das Recht der Fremden, Waisen, Witwen und Armen begründet. Das Alte Testament kennt im übrigen nicht nur die Pflicht der Habenden zum Teilen, sondern auch den Rechtsanspruch der Bedürftigen auf einen Anteil dessen, was erwirtschaftet wurde. Und zu diesem Personenkreis gehören ausdrücklich die Fremden! Egal aus welchem Grund sie gekommen sind.

Die Flucht-Erfahrungen haben bis ins neue Testament hineingewirkt. Ihr Echo finden sie in der Geburtsgeschichte Jesu im Matthäus-Evangelium (Kapitel 2,13-15):

Als die Sterndeuter wieder gegangen waren, erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten. Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des Herodes. Denn es sollte sich erfüllen, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.

Wer vom christlichen Abendland schwadroniert und dieses gegen alle Fremden abriegeln will, der sollte sich zunächst noch einmal diese Schlüsselerzählungen, die dem Judentum und dem Christentum gemeinsam zugrunde liegen, anschauen. Das Christentum wie auch das Judentum, aus dem sich die christliche Religion entwickelt hat, sind Religionen, in denen die Erfahrungen von Flucht und Not und die Rettung in diesen existenzbedrohenden Lebenssituationen von zentraler Bedeutung sind. Aus diesen Erfahrungen hat sich eine Ethik des Teilens, der Gerechtigkeit und der Solidarität entwickelt, sie sind eine von mehreren Wurzeln, aus denen sich die allgemeinen Menschenrechte nähren – unbeschadet aller schrecklichen Fehlentwicklungen, die vor allem das Christentum im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hat.

In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Deutschland, dass die EU christliches Abendland sind: weltoffen, solidarisch, bedingungslos den Menschenrechten verpflichtet. Wer dem nicht zustimmen kann, wer Flüchtlinge nicht aufnehmen und mit ihnen nicht solidarisch sein will, kann auch nicht Teil des christlichen Abendlandes sein. Für Nazis, Pegida, Rassiten gibt es in einem christlichen Abendland keinen Platz.

Übrigens: Merkel als Pfarrerstochter dürfte diese Erzählungen kennen. Gauck als Pfarrer kennt sie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

klute

Jürgen Klute, Mitglied des Europäischen Parlaments von 2009 - 2014. Theologe, Sozialpfarrer, Publizist & Politiker aus dem Pott.

klute

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