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Rentenpolitik | Anmerkungen zu einem wortreichen aber kenntnisarmen Kommentar des SPIEGEL zum Koalitionsvertrag – vermeintlich aus der Perspektive der jungen Generation

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"Dieser Koalitionsvertrag ist eine Zumutung für die jungen Wähler" ist ein Kommentar von Ann-Kathrin Nezik auf Spiegel Online überschrieben. Der Titel verspricht eine spannende Analyse des Koalitionsvertrages. Tatsächlich wiederholt der Kommentar von Nezik aber nur völlig unhinterfragt eine paar uralte neoliberale Dogmen zur Rentenpolitik bzw. zum Krieg der Generationen.

Im Kern fordert Nezik im Interesse der jungen Generation eine Absenkung des Rentenniveaus:

„Das liegt vor allem daran, dass die mögliche GroKo etwas zurückdrehen will, das schon lange beschlossen war: die Absenkung des Rentenniveaus, die aufgrund der demografischen Verschiebungen eigentlich unausweichlich ist.“

Wieso soll eigentlich die Absenkung des Rentenniveaus unausweichlich sein? Kein Wort, kein Argument dazu! Obgleich Österreich bekanntermaßen das Gegenteil vorführt.

Die demographischen Verschiebungen erzwingen keineswegs eine Absenkung des Rentenniveaus, wie neoliberale Ökonomen seit Jahren glauben machen wollen. Als Wissenschaftler sollten sie die Glaubenspflege doch besser den Religionsgemeinschaften überlassen.

Bei in etwa gleichbleibender Bevölkerung und leicht steigendem Wohlstand (Bruttoinlandsprodukt) kann das Rentenniveau durchaus gleich bleiben. Erstens, weil die hiesige Gesellschaft nicht ärmer, sondern reicher wird (ärmer würde die Gesellschaft nur, wenn sie den Anschluss an die Entwicklung einer digitalen Wirtschaft verschlafen würde – das würde für die junge Generation tatsächlich einen Wohlstandsverlust bedeuten, doch davon ist in dem Kommentar von Nezik nichts zu lesen). Und zweitens, weil die Zahl der Köpfe, auf die das Bruttoinlandsprodukt zu verteilen ist, nicht zunimmt. Die eigentliche Frage ist, wie die Renten finanziert werden. Die bisherige Verteilung durch Löhne und Renten sowie anderer Formen der Einkommenssicherung muss der demografischen Verschiebung angepasst werden. Wenn man so will, produzieren wir mit Bill Gates (Digitalisierung) und verteilen noch immer mit Bismarck. Dass die Absenkung des Rentenniveaus nicht zwangsläufig ist, wie Nezik schreibt, zeigt Österreich. Es gibt also politische Alternativen zur Absenkung des Rentenniveaus. Darüber wäre zu diskutieren.

Netzik übernimmt statt dessen unhinterfragt ein Argumentationsmuster aus der ökologischen Debatte, das dort auch sinnvoll ist. Dieses ökologische Argumentationsmuster lässt sich aber nicht auf Sozialpolitik übertragen.

Unter Umweltsünden der heutigen Generationen leiden in der Tat zukünftige Generationen. In sozialpolitischen Fragen stehen sich aber nicht eine junge und eine alte Generation gegenüber, sondern Wohlhabende und Einkommensarme. Dieser Graben spaltet nicht alt und jung, sondern dieser Graben durchzieht alle Generationen.

Eine sinnvolle Frage wäre gewesen, ob die Rücknahme der Absenkung des Rentenniveaus tatsächlich zum Schließen dieses Grabens beiträgt.

Weiter schreibt die Spiegel-Kommentatorin:

Mit der Ausweitung der Mütterrente wollen Union und SPD zudem einen Kurs verschärfen, den sie schon in der vergangenen Legislaturperiode eingeschlagen haben - und der schon damals nur eines war: ein Geschenk an die älteren Wähler, und noch dazu ein sehr teures. Allein die neue Mütterrente würde 3,5 Milliarden Euro pro Jahr kosten.“

Nun kann man fragen, ob das Familienbild, dass hinter der Mütterrente steht, zeitgemäß ist. Und man könnte fragen, ob es nicht einer deutlichen Modernisierung (die nicht Verarmung bedeutet) der Alterssicherung bedarf. Das fragt die Kommentatorin aber nicht. Sie moniert nur, dass es sich hier um ein teueres Geschenk an ältere Währler*innen handelt.

So wie die Kommentatorin hier formuliert, könnte man meinen, die 3,5 Milliarden Euro seien dann einfach weg. Dabei fließen die 3,5 Milliarden Euro in den Wirtschaftskreislauf und damit zu einem beachtlichen Teil als Steuern an den Staat zurück. In begrenztem Umfang kann diese Ausgabe auch die Wirtschaft beleben, was weitere Steuereinnahmen des Staates generieren würde.

Nicht die Höhe der Ausgaben ist das Problem. Zu fragen wäre vielmehr, ob das Geld dort ankommt, wo es benötig wird, ob dieses Geld also der Bekämpfung von Altersarmut (nicht alle alten Menschen sind reich, es gibt eben auch viele Arme unter den Alten) dient oder ob es doch nur wieder denen zufließt, die es nicht nötig haben.

Statt den Koalitionsvertrag zu analysieren und zu kritisieren wiederholt dieser Kommentar umhinterfragt aber wortreich und kenntnisarm uralte neoliberale Dogmen, die bis heute durch keine empirische Untersuchung untermauert wurden.

So ist dieser Kommentar ein gutes Beispiel für schlechten Journalismus!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

klute

Jürgen Klute, Mitglied des Europäischen Parlaments von 2009 - 2014. Theologe, Sozialpfarrer, Publizist & Politiker aus dem Pott.

klute

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