Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan

Syrien, Rojava, Kurdistan Der österreichische Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger zeichnet in einem aufschlussreichen Band die inneren Konfliktursachen des syrischen Bürgerkrieges nach.

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Zehntausende durch Krieg und Not aus ihren Herkunftsländern vertriebene Menschen sind in den letzten Monaten auf der Suche nach einem sicheren Ort in Europa angekommen. Ein großer Teil von ihnen kommt aus Syrien, in dem seit mehreren Jahren ein furchtbarer Bürgerkrieg tobt. Lange haben die Mitgliedsländer der EU diesen Bürgerkrieg ignoriert. Angesichts der Menschen, die durch den Bürgerkrieg und das faschistische Terrorregime des IS aus Syrien vertrieben wurden, und nun in Europa Schutz und Hilfe suchen, können die EU und ihre Mitgliedsstaaten nicht länger Augen und Ohren vor der Lage in Syrien verschließen – sowohl in einem wohlverstandenen Eigeninteresse als auch im Interesse der Menschen in Syrien.

Eine Politik zu entwickeln, die die Lage in Syrien zum Besseren wenden kann, setzt eine gute Analyse und Kenntnis der Situation vor Ort voraus. Der Wiener Politikwissenschaftler Thoma Schmidinger hat dazu mit seinem Ende 2014 erschienen Buch "Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan – Analysen und Stimmen aus Rojava" einen hervorragenden Beitrag geleistet.

Zur Qualität dieses Bandes trägt wesentlich bei, dass Schmidinger mehrfach vor Ort in Syrisch-Kurdistan war, dort recherchiert und eine Vielzahl von Interviews geführt hat.

Schmidinger versteht sein Buch als "eine Momentaufnahme einer sich in Echtzeit abspielenden Entwicklung" mit dem Ziel, "Verständnis für diese aktuelle Entwicklung zu ermöglichen" (S. 20) und somit nicht als eine abschießende Analyse.

Obgleich Schmidinger den Kurden freundschaftlich gesonnen ist (neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität Wien und der Fachhochschule Vorarlberg ist er noch Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie/Europäisches Zentrum für kurdische Studien), legt er Wert darauf, dass es sich bei dem vorliegenden Buch nicht um eine "Propagandaschrift" handelt. Er betont, "nach bestem Wissen und Gewissen" sich bemüht zu haben, "nur belegbare Fakten in dieses Buch einfließen zu lassen" (S. 21).

Diesem Anspruch genügt er in jedem Falle auch damit, dass er in seinem Band nicht nur eine Seite zu Wort kommen lässt, sondern Vertreter und Vertreterinnen aller politischen, ethnischen und religiösen Gemeinschaften in Rojava einschließlich unterschiedlicher kurdischer Positionen, ohne die eine oder andere Seite zu diffamieren oder zu diskriminieren.

Der Band gliedert sich in zwei Haupteile. Teil eins zeichnet die Entstehung der heutigen Konfliktlage nach und geht dabei, soweit es für das Verständnis nötig ist, auf etwas weiter zurückliegende geschichtliche Zusammenhänge ein. Teil zwei besteht aus 40 Interviews. Bis auf zwei Interviews stammen alle aus den Jahren 2013 und 2014, sind also recht aktuell.

Eine Reihe von Karten erleichtert das Verständnis der dargestellten Entwicklungen. Und eine Überblicksgrafik am Ende des Bandes versucht etwas Durchblick in die – freundlich formuliert – verschachtelte Entwicklung der kurdischen Parteien in Syrien zu bringen.

Die Darstellung und Analyse der Konfliktgeschichte in Syrien konzentriert sich auf die innersyrischen Konflikte, die sich aus dem Zerfall des Osmanischen Reiches ableiten lassen, ohne jedoch die äußeren Konfliktursachen (also das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916, in dem die beiden europäischen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien den Mittleren Osten unter sich aufgeteilt haben, kalter Krieg, geostrategische und ökonomische Interessen) zu ignorieren oder zu relativieren.

Schmidinger stellt schlüssig dar, dass der Konflikt um die Frage, ob es infolge des Zerfalls des Osmanischen Reiches einen panarabischen Nachfolgestaat im mittleren Osten geben sollte oder aber unterschiedliche arabisch Nationalstaaten oder aber eine Art föderale Staatenstruktur, die den unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen ein hohes Maß an Autonomie gewährt, nach wie vor nicht ausgestanden ist. Alle drei Konzeptionen spiegeln sich mehr oder weniger ausgeprägt in den jeweiligen politischen Zielen der heutigen Bürgerkriegsparteien in Syrien wider.

Als wesentliche innere Antriebskraft für den "arabischen Frühling" in Syrien arbeitet Schmidinger die Wirkungs- und Bedeutungslosigkeit der – teils vom Assad-Regime nur geduldeten – syrischen Parteien heraus, die zuletzt vor allem unter jungen Menschen jede Glaubwürdigkeit verloren haben. So lässt sich der "arabische Frühling" in Syrien an seinem Beginn als Antwort in Form einer politischen Selbstermächtigung auf eine fundamentale politische Repräsentationskrise verstehen.

In der politischen Debatte darum, wie der syrische Bürgerkrieg und der menschenverachtende, faschistische Terrorstaat des IS beendet werden können, ist dieser Band ein wichtiger Beitrag. Zwar hat die gesellschaftliche Linke Recht, wenn sie gegenüber dem konservativen politischen immer wieder darauf verweist, dass die europäischen Kolonialmächte, die EU und die USA – allerdings auch Russland und zuvor die Sowjetunion – ein erhebliches Maß an Verantwortung für die Konfliktgeschichte in Syrien (und darüber hinaus im gesamten mittleren Osten) tragen und dass die politischen Akteure sich dieser Verantwortung stellen müssen. Die Ausblendung der inneren Konfliktursachen, wozu nun wiederum die gesellschaftliche Linke neigt, ist für eine politische Lösung allerdings genau so hinderlich wie das Ausblenden der externen Faktoren. Eine auf Dauer tragfähige Lösung wird es nur geben, wenn beide Aspekte in angemessener Weise in Rechnung gestellt werden.

Thomas Schmidinger leistet in diesem Sinne mit seinem Buch "Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan – Analysen und Stimmen aus Rojava" einen konstruktiven und weiterführenden Debattenbeitrag. Angenehm ist, dass er dem Lesenden nicht einzureden versucht, er habe auch gleich die richtige Lösung für eine Beendigung des grausamen und blutigen Bürgerkrieges zur Hand. Das Buch überzeugt vielmehr dadurch, dass es den Interessierten die syrisch-internen Konflikt- und Interessenlagen verständlicher macht, die zum Ausbruch des Bürgerkriegs beigetragen haben, und damit wichtige Perspektiven eröffnet bei der Suche nach einer tragfähigen politischen Lösung.

Bibliografische Angaben:

Thomas Schmidinger: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan – Analysen und Stimmen aus Rojava. Mandelbaum, Wien 2014 – ISBN: 978-3-85476-636-0. 262 Seiten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

klute

Jürgen Klute, Mitglied des Europäischen Parlaments von 2009 - 2014. Theologe, Sozialpfarrer, Publizist & Politiker aus dem Pott.

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