Lafontaine liegt falsch!

Menschenrechte Der Politiker kritisiert in einem Interview in der "Welt" scharf die Asylpolitik seiner Partei. Doch damit liegt er falsch und spielt der AfD in die Hände

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Gezielt vermischt Oscar Lafontaine Zuwanderung und Flucht
Gezielt vermischt Oscar Lafontaine Zuwanderung und Flucht

Foto: Carsten Koall/AFP/Getty Images

Die Nominierung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten hat einen regelrechten Hype zugunsten der SPD in den Umfragen ausgelöst. Nicht nur die CDU und AfD haben Stimmeneinbußen hinnehmen müssen, auch Grüne und Linke verzeichnen in einem Teil der aktuellen Umfragen Stimmenverluste.

Es ist also kein Zufall, dass Oskar Lafontaine sich mit einem Interview in der „Welt“ am 6. Februar 2017 zu Wort gemeldet hat, über das auch Die Zeit am gleichen Tag berichtete.

Im Mittelpunkt steht die Flüchtlings- und die soziale Frage. Lafontaine fordert seine Partei, Die Linke, zum Nachdenken über ihre bisherige Position in der Flüchtlings- und Asylpolitik auf. Das sei angesichts der Abwanderung von Arbeitnehmern zur AfD nötig, begründet er seine seine Aufforderung.

Es geht dabei um eine Strategie, um einen weiteren Zuwachs der AfD zu stoppen. Das Anliegen als solches ist unstrittig. Fragwürdig ist hingegen die vorgeschlagene Strategie.

Das Parteiprogramm der Linken macht zum Thema Asyl eine schnörkelose Aussage: „Schutzsuchende dürfen nicht abgewiesen werden. Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen.“

Lafontaines Aufforderung an Die Linke kann nur – auch wenn er das nicht direkt formuliert – auf eine Abschwächung dieser Position zielen, denn verschärfen lässt sich diese Forderung nicht mehr. Jede Abschwächung dieser Forderung wäre ein programmatisches Zugeständnis an die AfD, das diese als Bestätigung der Richtigkeit ihrer Forderungen nach Abschottung vor Flüchtlingen deuten würde.

Auch die folgende Aussage greift rechte Forderungen auf: „Letztlich müsse ‚der Staat darüber entscheiden können, wen er aufnimmt. Das ist nun mal die Grundlage staatlicher Ordnung‘, sagte Lafontaine im Interview der ‚Welt‘. ‚Wer illegal über die Grenze gekommen ist, der sollte ein Angebot bekommen, freiwillig zurückzugehen. Wenn er dieses Angebot nicht annimmt, bleibt nur die Abschiebung.‘“

Nach den Dublin-Regeln der EU für Asylsuchende müssen Flüchtlinge ihren Antrag auf Asyl in dem Land stellen, in dem sie erstmals europäischen Boden betreten haben. Da die BRD keine EU-Außengrenzen hat, können Flüchtlinge in der Regel nicht auf legalem Weg in die BRD gelangen, um hier einen Asyl-Antrag zu stellen. Lafontaines Position bedeutet also eine faktische Schließung der deutschen Grenzen für Flüchtlinge. Genau das ist eine zentrale Forderung der AfD.

Lafontaines Forderung beinhaltet weiter, dass die Hauptaufnahmeländer von Flüchtlingen, Italien und Griechenland, weiterhin mit den Flüchtlingen allein gelassen werden; und beide Länder sind wirtschaftlich stark angeschlagen. Statt Grenzen zu schließen, wäre es nötig, auf eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage zu drängen und Italien und Griechenland zu entlasten.

Lafontaine vertritt die Position, dass jeder Staat das Recht haben müsse, darüber entscheiden zu können, wen er aufnimmt. Das ist – freundlich ausgedrückt – ein antiquiertes Verständnis staatlicher Souveränität. Die in den USA lehrende, in Istanbul geborene, jüdische Philosophin Seyla Benhabib diskutiert in ihrem Buch „Die Rechte der Anderen“ die Grenzen staatlicher Souveränität und stellt das von Lafontaine vertretene Konzept mit guten Gründen infrage.

Einer der Ausgangspunkte ihrer alternativen These ist der Satz von Hannah Arendt, dass jeder das Recht hat, Rechte zu haben. Dahinter verbirgt sich die Einsicht, dass so genannte Staatenlose sich in einem mehr oder weniger rechtsfreien Raum bewegen. Nur als Angehöriger einer auf den Grundlagen eines Rechtsstaats gründender Gesellschaft kann ein Individuum Schutz vor Willkür erhalten. Daraus leitet sie ab, dass dem in den internationalen Menschenrechten verankertem Recht auf Flucht ein Recht auf Zugang zu einer anderen Gesellschaft, ein Recht auf Einwanderung, entsprechen müsse, damit Flüchtende nicht im schutzlosen Zustand der Staatenlosigkeit hängen bleiben.

Seyla Benhabib weist in ihrem Buch des weiteren darauf hin, dass nach den Gräueltaten der Nazis dem auf den Westfälischen Frieden zurückgehenden absoluten staatlichen Souveränitätsverständis durch die Nürnberger Prozesse und durch die Kodifizierung der internationalen Menschenrechte Grenzen gesetzt wurden. Ein Verständnis staatlicher Souveränität, dass sich vorbehält, nach Gusto Menschen den Schutz zu verweigern, auf den sie angewiesen sind, um überleben zu können, steht schlicht im Widerspruch zu den Menschenrechten. Wenn nun aber Linke gerades ein solches staatliches Handeln einfordern,straft das jedes Reden der Linken von Solidarität lügen.

Von einem linken Politiker ist zu erwarten, dass er mit solchen Debatten vertraut ist und sie in seine politischen Positionierungen einbezieht. Wer denn sonst als linke Politiker*innen soll den fortwährenden rechten Angriffen auf Menschenrechte entgegentreten und ihnen argumentativ etwas entgegenstellen?

Als Lösung der Flüchtlingsfrage schlägt Lafontaine eine Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern vor. Das ist eine richtige Forderung, die kaum jemand in Frage stellt. Die Fluchtursachen lassen sich allerdings nicht von heute auf morgen beseitigen. Der Zustand vieler afrikanischer Gesellschaften, der nicht zuletzt auch eine Folge der europäischen Kolonialisierung großer Teile Afrikas und teils auch Folge einer verfehlten EU-Fischerei- und Landwirtschaftspolitik ist, spricht eher dafür, dass es noch ein, zwei Jahrzehnte dauern wird, bis Maßnahmen zur Bekämpfung der Fluchtursachen Wirkung zeigen. Es wäre nur ehrlich, den Wählerinnen und Wählern hier reinen Wein einzuschenken, statt den Eindruck zu erwecken, es gäbe in diesem Punkt schnelle Lösungen. Wahrscheinlicher ist jedenfalls, dass die Zahl der nach Europa flüchtenden Menschen in den nächsten Jahren noch steigt.

Gezielt vermischt Lafontaine Zuwanderung und Flucht. So zitiert Die Welt ihn weiter mit dem Satz: „Die Einwanderungsfrage ist vor allem eine soziale Frage – für die, die kommen und für die, die schon hier leben. Sie ist eine nicht geklärte Frage innerhalb der Programmatik der Linken“, sagte Lafontaine. Der Soziologe Colin Crouch habe „darauf hingewiesen, dass der Ruf nach offenen Grenzen eine zentrale Forderung des Neoliberalimus ist“.

In einer Weise sind natürlich auch Flüchtende Zuwanderer. Dennoch macht es einen Unterschied, ob jemand aus freiem Willen in ein anderes Land auswandern will, oder ob jemand auf der Flucht ist, um sein Leben zu retten. Die seit 2015 vermehrt in die Bundesrepublik gekommenen Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan waren jedenfalls keine Auswanderer, die ökonomischen Anreizen der deutschen Wirtschaft gefolgt sind, sondern Menschen, die aus ihren Herkunftsländern geflohen sind, weil sie dort einer akuten Gefährdung an Leib und Leben ausgesetzt waren. Die in der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehenen Öffnung der Grenzen für Flüchtende ist eine Konkretion der Menschenrechte. Die als neoliberal zu diffamieren, kann man nur noch als infam bezeichnen!

Die Frage von Einwanderung und Flucht ist nicht „vor allem eine soziale Frage“, sie ist vor allem eine Frage der Solidarität und der Menschenrechte. Das gilt um so mehr, als die Bundesrepublik eines der reichsten Länder der Welt ist. Laut Amnesty International (Amnesty International: Ärmere Länder nehmen Großteil der Flüchtlinge auf. In: Der Spiegel vom 04.10.2016) leben 56 % aller Flüchtlinge in 10 Ländern im direkten Umfeld der Herkunftsländer. Diese 10 Länder verfügen lediglich über rund 2,5 % des globalen Bruttosozialprodukts.

Weiterhin spricht Lafontaine Lohn- und Mietkonkurrenzen an. Er sagt nicht direkt, dass das eine Folge der Aufnahme der Flüchtlinge ist. Seine oben zitierte Aussage „Die Einwanderungsfrage ist vor allem eine soziale Frage – für die, die kommen und für die, die schon hier leben.“ legt diesen Schluss aber nahe. Damit begibt Lafontaine sich in eine gefährliche Nähe zur Sündenbock-These der AfD, die die Ursache aller sozialen Verwerfungen in der BRD den Flüchtlingen andichten will.

Dabei ist es offensichtlich, dass die zurecht beklagten sozialen Verwerfungen in der BRD im wesentlichen in der Agenda 2010, in den enormen Rationalisierungen in der Produktion und in einer verfehlten Wohnungsbaupolitik gründen, also in politischen Richtungsentscheidungen, die 15 Jahre und mehr zurückliegen, für die allein die Bundesregierungen vergangener Zeiten verantwortlich sind.

Mittlerweile gibt es den gesetzlichen Mindestlohn als Begrenzung von Lohnkonkurrenz nach unten. Ob den Forderungen aus der Wirtschaft nach Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge stattgegeben wird, entscheiden nicht Flüchtlinge, sondern allein die Bundesregierung.

Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde das Asylrecht der BRD drastisch beschnitten – übrigens unter Mitwirkung der SPD und auch Lafontaines. Schon damals geschah das auf Druck von rechts. Und es geschah mit Verweis auf die soziale Frage. Den rechten Parteien sollte so der Wind aus den Segeln genommen werden.

Die eigentlichen sozialen Verwerfungen kamen jedoch nicht infolge der Flüchtlinge und Spätaussiedler, sondern ein paar Jahre später mit der Agenda-Politik von Bundeskanzler Schröder. Die sozialen Einschnitte wurden allerdings nicht mit den in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommenen Flüchtlingen und Spätaussiedlern begründet, sondern mit der Notwendigkeit, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu verbessern.

Es widerspricht schlicht den Fakten, Flüchtlingen die Verantwortung für soziale Einschnitte und Verwerfungen in der Bundesrepublik anzuheften. Das Schleifen des Asylrechts Anfang der 1990er Jahre hat nicht einen einzigen Schnitt ins soziale Sicherungsnetz verhindert. Auf der Strecke geblieben sind aber die internationalen Menschenrechte – ganz im Sinne rechter Politik.

Noch ein Letztes: Offenbar hat Lafontaine vergessen, dass es im 19. und 20. Jahrhundert in aller Regel Gewerkschafter*innen, Sozialdemokrat*innen, Sozialist*innen, Kommunist*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und zur Nazizeit zusätzlich verfolgte Minderheiten und Juden waren, die auf Flucht und auf Asyl angewiesen waren, um ihr Leben zu retten: Willy Brand, Herbert Wehner, Walter Benjamin, Berthold Brecht, Thomas Mann, Paul Tillich, Albert Einstein, Carl Zuckmayer, um nur einige wenige Namen zu erinnern – und eben abertausende namenlose Menschen, denen einzig ihr Glaube, ihre ethnische Zugehörigkeit, ihre sexuelle Orientierung oder eine chronische Krankheit oder Behinderung zum Verhängnis wurde.

Die Linke wäre gut beraten, sich nicht von der AfD vor sich hertreiben zu lassen und sich nicht auf eine von Lafontaine offenbar angestrebte Aufweichung der flucht- und asylpolitischen Positionen einzulassen. Das wäre von der Sache her falsch und nicht weniger als eine programmatische Annäherung an die AfD um den Preis einer erneuten Schwächung der Menschenrechte.

Statt der gesellschaftlichen Minderheit von derzeit rund 12 % AfD-Wählern hinter zulaufen gäbe es die Alternative für Die Linke, sich auf den deutlich größeren Teil der Gesellschaft zu konzentrieren, der nach wie vor Solidarität mit den Flüchtlingen zeigt, der sich zum Teil aber von der Politik allein gelassen fühlt!

(In einer kürzeren Fassung erschien dieser Artikel am 14. Februar 2017 im Neuen Deutschland als Gastbeitrag)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

klute

Jürgen Klute, Mitglied des Europäischen Parlaments von 2009 - 2014. Theologe, Sozialpfarrer, Publizist & Politiker aus dem Pott.

klute

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