Nationalstaat – Souveränität – Menschenrechte

Menschenrechte Der Nationalstaat steht wieder hoch im Kurs. Doch um Menschenrechte durchzusetzen, müssen Nationalstaaten international kontrolliert und ihre Souveränität begrenz werden

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Quo vadis EU?
Quo vadis EU?

Foto: Christopher Furlong/AFP/Getty Images

Nationalstaat und staatliche Souveränität sind im Zuge der seit 2008 währenden Krise der EU für viele Bürgerinnen und Bürger der EU erneut zu einer politischen Vision geworden, die sich – in unterschiedlicher Radikalität – gegen die EU richtet. Vor allem rechte Parteien haben sich diese Vision auf die Fahnen geschrieben und erzielen damit deutliche Stimmengewinne. Allerdings findet diese Vision auch in Teilen der Linken Rückhalt.

Um was es dabei geht, bring am präzisesten der zentrale Slogan der Brexit-Kampagne zum Ausdruck: „Take controle back!“ – „Wir wollen die Kontrolle zurück!“

Diese Forderung wird von rechten Parteien und Demagogen gerne als Ausdruck einer legitimen Forderung nach mehr Demokratie bzw. nach Basisdemokratie dargestellt, die sich gegen eine (vermeintlich) vom Volk und seinem Willen entfremdete Elite richtet.

Besonders lautstark artikuliert sich diese Forderung vor allem dann, wenn es um die Rechte von Minderheiten und um die Rechte von Flüchtlingen geht. Wer hier vor Ort leben darf, so die Botschaft dieser Forderung, das wollen wir, das Volk, selbst entscheiden. Denn niemand anders als wir, das Volk, hat das Recht darüber zu entscheiden, wer in unserer Nachbarschaft leben darf und wer nicht, wer zu uns passt und wer nicht.

Dahinter verbirgt sich ein Souveränitätsverständnis, dass sich in Folge des Westfälischen Friedens von 1648 entwickelt hat. Das damals entstandene Staats- und Souveränitätsverständnis war gekoppelt mit dem staatlichen Machtmonopol. Als Antwort auf die damaligen Verhältnisse hat dieses auf dem Westfälischen Frieden beruhende Konzept seine Berechtigung gehabt.

Mit der Idee des im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalismus hat dieses Konzept staatlicher Souveränität eine Pervertierung erfahren, die ihre schärfste Zuspitzung in den unsäglichen Verbrechen der Nationalsozialisten fanden. Die Verbrechen der Nazis haben dazu geführt, dass nach der militärischen Zerschlagung des nationalsozialistische Verbrechersystem zumindest die überlebenden Hauptverantwortlichen dieses Verbrechersystems vor einem internationalen Tribunal zur Verantwortung gezogen wurden. Das war nicht die Durchsetzung eines Siegerrechts, sondern die notwendige juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen auf internationaler Bühne. Damit sind neue Standards gesetzt worden, die der auf den Westfälischen Frieden zurückgehenden Idee eines staatlichen Machtmonopols und staatlicher Souveränität, die wie gesagt im Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts zur Perversion mutierte, Grenzen aufgezeigt und gesetzt hat.

In diesen entsetzlichen Erfahrungen wurzeln die Europäische Union und die UNO. Die Formulierung der Menschenrechte und deren Durchsetzung und Einhaltung und damit die Begrenzung nationalstaatlicher Machtmonopole und Souveränität sind eines der zentralen Anliegen der Arbeit dieser überstaatlichen Strukturen.

Das Recht auf Flucht und des Recht von Flüchtlingen spielt dabei eine besondere Rolle. Es geht um die „Rechte die Anderen“ – so der Titel eines Buches von Seyla Benhabib, das diese Themen ausführlich verhandelt und den historischen Hintergrund dieser Debatte kenntnisreich und präzises nachzeichnet.

Ausgangspunkt der Reflexionen von Seyla Benhabib ist die Forderung von Hannah Arendt, dass jeder Mensch das Recht hat, Rechte zu haben. Rechte existieren allerdings nur im Rahmen einer Rechtsgemeinschaft, also einer der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Gesellschaft.

Eine der Konsequenzen, die Seyla Benhabib aus ihren Überlegungen zieht, ist die, dass es nicht ausreicht, Menschen nur das Recht auf Flucht zuzuerkennen (also das Recht, eine Gesellschaft, in der sie nicht mehr sicher sind, verlassen zu dürfen). Einem Recht auf Flucht muss ein Recht auf Einwanderung in eine andere Gesellschaft, die Flüchtlingen das Recht garantiert, Rechte zu haben und in Anspruch nehmen zu können.

Genau dieses Recht – das Recht, Rechte zu haben – steht im Konflikt mit Nationalismus und nationalstaatlicher Souveränität. Die politischen Konzepte rechts-nationaler bis hin zu neofaschistischen Parteien stellen genau dieses Recht infrage bzw. negieren es. Das zeigen gegenwärtig die politischen Entwicklungen insbesondere in Ungarn, Polen und der Türkei, aber auch Großbritannien nach dem Brexit und auch Trump sind diesem politischen Lager unzweideutig zuzuordnen. Parteien wie der Front National und die AfD streben analoge Entwicklungen in ihren Ländern an.

Im Kern geht es also um die zutiefst zivilisatorische Frage, ob es grundlegende Rechte für jeden Menschen gibt, die nicht zur Disposition gestellt werden – oder eben nicht.

Die internationalen Menschenrechte stellen einen solchen Konsens über grundlegende Rechte dar, die jedem Menschen gelten und die auch durch politische Mehrheitsentscheidungen nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Dieses Prinzip zu achten und zu schützen, haben sich die Staaten verpflichtet, die die entsprechenden internationalen Vertragswerke ratifiziert und teils auch als Prinzip in ihre Verfassungen aufgenommen haben.

Der Umgang mit Flüchtlingen und mehr noch die rechten Diskurse darüber, wie mit Flüchtlingen umgegangen werden sollte, bewegen sich längst jenseits dieses demokratisch legitimierten Prinzips.

Damit die zentrale Schwäche dieses Prinzip deutlich: Es basiert auf Selbstverpflichtung und Vertrauen, nicht aber auf einem internationalen Machtmonopol, etwa in Form einer Weltregierung. Ein internationales staatliches Machtmonopol wäre allerdings auch nicht wünschenswert. Denn die Versuchung, ein solches Machtmonopol zu missbrauchen wäre zu groß und effektiv verhindern ließe sich ein solcher Missbrauch im Zweifel nur sehr schwer. Es stünde zumindest auch in Spannung zum demokratischen Prinzip der Gewaltenteilung, die politische Macht aus guten Gründen zeitlich und räumlich begrenzt.

Folglich stehen aufgrund gegebener Bedingungen und prinzipieller Überlegungen nur eine internationale Öffentlichkeit aus überstaatlichen Institutionen, wie der UNO und internationaler Gerichtshöfe, und Medien zur Durchsetzung internationaler Rechte zur Verfügung. Auch die EU gehört zu diesen Institutionen, wenngleich sie eine deutlich andere Struktur und einen anderen Charakter als die UNO hat.

Dem kann man nun entgegenhalten, und seitens der Linken wird dieses Argument immer wieder zur Geltung gebracht, dass die genannten Institutionen nicht neutral seien, sondern von wenigen großen Staaten dominiert werden und daher der Durchsetzung von deren Interessen dienten. Zudem lassen sich Menschenrechte auch instrumentalisieren und als vorgeschobenes Argument – aus welchem Interesse auch immer – nutzen, um sich in innere Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen.

Von der Hand weisen kann man diese Argumente nicht, denn sie sind durch Beispiele zu belegen.

Das ist aber kein Grund, sich auf einen zivilisatorischen Rückschritt einzulassen. Letztlich gibt es für keine politische Institution die Garantie, dass sie ausschließlich dem Guten dient. Politische Institutionen sind immer umkämpft von unterschiedlichen Interessengruppen. Es bleibt also nur, sich dieser politischen Auseinandersetzung zu stellen.

Das Eintreten für Menschenrechte ist ein linkes, progressives und emanzipatorisches Projekt, dass die Linke nicht aufgeben kann, ohne sich selbst aufzugeben.

In den letzten rund 150 Jahren waren es in der Regel Linke, Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten, etc., die sich immer wieder zur Flucht vor Verfolgung, Gefängnis, Folter und Morddrohungen gezwungen sahen.

Zu den Menschenrechten zählt nicht allein das Recht auf Flucht, sondern auch die von der internationalen Arbeitsnormen, die die Rechte von Arbeitern und Arbeiterinnen und Gewerkschaften formulieren und auf deren Durchsetzung zielen.

Die Klimaerwärmung wird zunehmend zu einer weiteren Fluchtursache. Ihre Bekämpfung und Eindämmung erfordert eine internationale Kooperation.

Eine globalisierte, internetgestützte Wirtschaft lässt sich nur noch im Rahmen internationaler Vereinbarung und Rechtssetzung regulieren.

Wer Interessenkonflikte politisch ohne Einsatz militärischer Mittel lösen will, der braucht dazu internationale politische Strukturen, die die politische Lösung organisieren und absichern.

All diese Themen stehen im Zentrum linker Politik. Die Schlussfolgerung kann also nur lauten, dass die Linke sich gegen die historisch überholten und desavouierten Konzepte von Nationalismus und staatlicher Souveränität der rechtskonservativen und neofaschistischen Parteien stellt und für eine Stabilisierung, für Reformen und für die Weiterentwicklung sowohl der EU als auch der UNO und internationaler Rechtssprechung und deren Gerichte streitet. Nur mit einer gut austarierten Balance zwischen überstaatlichen und internationalen Institutionen, einer internationalen medialen Öffentlichkeit und international vernetzter Zivilgesellschaften einerseits sowie den Nationalstaaten, die vermutlich noch eine ganze Weile existieren werden, andererseits, ist es möglich, letztere zu zivilisieren. Und das ist nach wie vor dringend nötig, wie sich gegenwärtig erneut zeigt!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

klute

Jürgen Klute, Mitglied des Europäischen Parlaments von 2009 - 2014. Theologe, Sozialpfarrer, Publizist & Politiker aus dem Pott.

klute

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