Unblutig abserviert

Brasilien 2016 | Der frühere brasilianische Präsident Michel Temer äußert sich zu seiner Rolle bei der Absetzung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

2016 verlor die damalige linke brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff (PT = Partido dos Trabalhadores / Partei der Arbeiter) aufgrund eines fragwürdigen Amtsenthebungsverfahrens ihr Präsidentenamt.

Als mitverantwortlich an der Amtsenthebung galt Rousseffs damaliger Vizepräsident Michel Temer (PMDB = Partido do Movimento Democrático Brasileiro), gegen den mittlerweile strafrechtliche Ermittlungen wegen Korruption laufen. Temer war von 2011 bis 2016 Vizepräsident, war dann zunächst geschäftsführender Präsident und wurde im August 2016 Rousseffs Nachfolger. Ihm folgte 2018 der jetzige rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro.

Welche Rolle Temer bei dem Amtsenthebungsverfahren gespielt und wie er agiert hat, hat er nun in einem Memoirenband über die Zeit seiner (Vize)Präsidentschaft veröffentlich.

In dem Memoirenband, der den Titel war 2016 "A Escolha, Como um Presidente Conseguiu Superar Grave Crise e Apresentar uma Agenda Para o Brasil" (deutsch in etwa: "Die Entscheidung. Wie es einem Präsidenten gelang, die schwere Krise zu überwinden und ein Programm für Brasilien zu entwerfen") trägt und als Gespräch zwischen Temer und dem Herausgeber Rosenfield konzipiert ist, erzählt Temer offen, wie er die Amtsenthebung von Dilma Rousseff betrieben und sich gleichzeitig die Rückendeckung des Brasilianischen Militärs gesichert hat. Vor allem diesen Teil des Buches stellt Mario Schenk in seinem Artikel "Brasilien: Putsch gegen Dilma Rousseff erfolgte nach Absprache mit Militärs" auf dem Portal „Amerika 21 – Nachrichten und Analysen aus Lateinamerika“ vor, ordnet ihn politisch ein und erläutert die Hintergründe, die dazu führten, dass das brasilianische Militär sich auf diesen Pakt mit Temer eingelassen hat. Und er erschließt damit den inhaltlichen Kern dieses in portugiesischer Sprache verfassten Bandes, der wohl kaum Zugang zum deutschen Buchmarkt finden dürfte, einem deutschsprachigen InteressentInnenkreis. In dem Artikel ist auch eine – wenn auch denkwürdige – Antwort auf die Frage zu finden, weshalb Temer diese Hintergründe öffentlich macht.

Für Beobachter war 2016 sehr schnell erkennbar, dass die Amtsenthebung von Dilma Rousseff Ergebnis einer missbräuchlichen Anwendung von Verfahrensregeln war. Man kann diese Amtsenthebung auch als unblutigen (Militär)Putsch (das brasilianische Militär hat stark von dem Putsch profitiert) interpretieren, als ein Aushöhlen der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie. Der Memoirenband von Temer und seinem Freund Rosenfield bestätigt diese Interpretation als zutreffend.

Dieser Memoiren-Band bzw. dessen Besprechung ist noch im Blick auf einen weiteren Fall relevant. Mitte 2012 wurde der damalige Mitte-links-Präsident von Paraguay, Fernando Lugo, ebenfalls durch ein mehr als fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren abgesetzt. Als MdEP hatte ich damals die Möglichkeit, an einer von mir mit initiierten Delegation des Europäischen Parlaments teilzunehmen, die sich vor Ort ein Bild von dem Amtsenthebungsverfahren gemacht hat. Nach etlichen Gesprächen mit VertreterInnen verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen konnte man den Eindruck haben, dass nach Jahren der Toleranz einiger Mitte-links-Regierung in Lateinamerika nun eine Gegenbewegung einsetzte, die darauf zielte, vorerst mit unblutigen und scheinbar demokratischen Mitteln diese Regierungen wieder aus dem Amt zu vertreiben.

Die Amtsenthebung von Dilma Rousseff erfolgte im Kern nach dem gleichen Muster wie die von Fernando Lugo. Die Memoiren von Michel Temer bekräftigen jetzt den Verdacht, dass es sich hier um ein neues Muster eines Staatsstreichs handelt, der – anders als etwa 1973 in Chile – unblutig ist und der sich den Anschein gibt, rechtsstaatlich und demokratisch zu sein und der daher sehr viel schwerer skandalisierbar ist als der Putsch gegen Allende 1973.

Der Artikel von Mario Schenk sollte allerdings nicht nur die Aufmerksamkeit von Lateinamerika-Interessierten auf sich ziehen. Diese Art von Putsch in Brasilien führt sehr anschaulich vor Augen, wie wichtig die öffentliche, demokratische Kontrolle der Organe ist, die das staatliche Machtmonopol ausüben. Sowohl im Blick auf die Polizei als auch im Blick auf die Bundeswehr haben wir diese Debatte angesichts rechter Netzwerke in beiden staatlichen Organen seit einiger Zeit auch in der Bundesrepublik.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

klute

Jürgen Klute, Mitglied des Europäischen Parlaments von 2009 - 2014. Theologe, Sozialpfarrer, Publizist & Politiker aus dem Pott.

klute

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden