Offen, Liberal und Entwicklungsfähigkeit

LosAngeles Angelenos sind nur wenig interessiert, was anderswo oder staatstragend über sie gedacht wird. Und die Deutschen? Ihr Amerika-Blick ist oft moralisch überlegen. Warum eigentlich?

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Worüber sprechen wir in Deutschland, wenn wir über die USA oder die Amerikaner reden?

Über die, wie auch immer geartete, Regierung in Washington? Über das Leben deutscher Einwanderer im Mittleren Westen? Über New York City und ‚urban lifestyle‘? Oder über das Leben und die Filmproduktionen in den Hollywood Hills?

Oder wie gegenwärtig bevorzugt über Geheimdienste, deren Organisationsstrukturen und Machenschaften uns aus den handelsüblichen, gedruckten oder visualisierten Thriller so vertraut sind, wie dem Bundesnachrichtendienst (BND) die US-Botschaft am Pariser Platz?

Was wissen wir über das individuelle und alltägliche Leben in dieser Nation, in einem der 50 souveränen Staaten und über 3000 mittleren Verwaltungsebenen (counties), dem institutionellen Beziehungsgeflecht das jeden Bürger unmittelbar bindet?

Beispielsweise über Los Angeles, die Partnerstadt von Berlin seit Mitte der 60er Jahre. Beide Städte sind Stadtstaaten mit in vieler Hinsicht vergleichbaren Nöten. Wobei, volkswirtschaftlich gesehen LA als county, wäre es ein unabhängiger Staat, weltweit auf Rang 19 rangiert. Davon kann Berlin nur träumen.

https://db.tt/FeRosCtcAuf der Landkarte zeigt sich LA als Häusermeer in grober Verpixelung. Ein westlicher Moloch, dem Touristen, nachdem sie im Tom Bradley Terminal des Flughafens (LAX) angekommen, fluchtartig in Richtung Nationalparks, San Francisco oder der Route 66 zu entkommen suchen.

Das Sammelsurium Los Angeles setzt sich verwaltungstechnisch aus über zwei Dutzend mit einander verzahnten Stadtvierteln oder Bezirken und unabhängigen Kommunen zusammen. Quartiere wie die 'Downtown' Region mit Korea-, Chinatown und dem historischen Stadtkern, Olvera Street unterscheiden sich nicht nur bautechnisch von den Vierteln der South Bay, die durch den direkten Zugang zum Pazifik geprägt sind und sich durch eigene Strandabschnitte auszeichnen.

Zu den Gemeinden in eigener Verwaltung gehört Santa Monica, nur 20 Autominuten nördlich vom LAX entfernt und von Touristen der Einkaufsmöglichkeiten und Strände wegen bevorzugt, stadteinwärts Beverly Hills, der Wohnort der Schönen und Reichen oder Marina del Rey mit seinem Yachthafen. Dazwischen liegt der Stadtteil Venice, mit seinem bei Einheimischen und Besucher gleichermaßen beliebten Strandpromenade „Venice Beach“.

Verirrt ein Zehlendorfer sich nach Neukölln oder in den Wedding?

El Segundo, das im Norden an den Flughafen, im Westen an den Pazifik und im Süden an South Los Angeles grenz hat die Anmutung einer Kleinstadt in 'the middle of nowhere'. Als Küstenstädtchen geht El Segundo nicht durch, da eine riesige Industrieanlage den direkten Zugang zu den Stränden blockt. An der 'Mainstreet', die befahren ist wie eine Dorfstraße im Westerwald befinden sich ein paar Lokalitäten und Kleingewerbe.

https://db.tt/W4RtGeQnTouristen verirren sich selten in dieses Ort in der Familien der Mittelschicht wohnen. Die Einheimischen (locals) sind unter sich. Man kennt sich, die Frauen aus der schulischen Elternarbeit, die Männer von den am Samstag stattfindenden Baseball- oder Footballveranstaltungen mit den Kindern. Die Kriminalitätsrate ist niedrig. Kleine Holztafeln, die vor den Wahlen in die Vorgärten gesteckt werden offenbaren die Bewohner als bekennende republikanische Wähler.

Die Gewerbesteuer sprudelt, dank der ortsansässigen Industriebetriebe wie Boeing, Chevron, Mattel. Der Gemeinde ist finanziell gut aufgestellt. Für die Jugendlichen gibt es im Sommer einen kostenlosen Bus-Shuttle der sie die paar Meter zum Strand hinunter fährt, Schulen und Sportanlagen sind in ausgezeichneten Zustand. Die örtlichen Schulen liegen im landesweiten Schulranking im oberen Durchschnitt.

Von diesen sozialen Verhältnissen können die Kinder stadteinwärts, in South Los Angeles mit den Bezirken Watts und Compton oder die Schüler der Compton Elementary School nur träumen.

https://db.tt/4Fvqvx9JWatts steht für die 'Watts Rebellion' in den Geschichtsbüchern. Mitte der 60er Jahre kam es dort zwischen den damals überwiegend afroamerikanischen Einwohnern und der Polizei zu den heftigsten Ausschreitungen bislang. Zahlreiche Toten, Verletzten und ein Millionen-Sachschaden war die Folge.

Compton wiederum wird mit der Erfolgsgeschichte der beiden Tennis spielenden Schwestern, Venus und Serena Williams- belegt, die dort die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachten. Beide Stadtteile geraten wegen ihrer hohen Kriminalitätsrate immer wieder in die Schlagzeilen.

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Es gibt keine Berührungspunkte zwischen diesen beiden Orten, indirekt durch die Kunst vielleicht.

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Verirrt ein Zehlendorfer sich nach Neukölln oder in den Wedding? Wohl kaum. In Deutschland sprechen wir von 'Problembezirken' und 'Brennpunktschulen'. In Los Angeles sind es, nicht nur politisch korrekt, die ‚poor family districts‘ und low-income-schools.

Die Krux mit Multikulti

Im Einwanderungsland USA ist die Einteilung in Ethnien selbstverständlich. Bin ich weiß, kreuze ich ‚caucasian‘ auf den amtlichen Formularen an. Bis zu diesem Jahrzehnt stellten in LA die Nachfahren der europäischen Emigranten den größten Bevölkerungsanteil. Heute sind sie in der Minderheit. Spanisch, die Muttersprache der ‚Latinos‘ und ‚Hispanics‘ hat sich in weiten Teilen des öffentlichen Lebens als Zweitsprache etabliert.

Da Englisch nicht als Landessprache in der amerikanischen Verfassung verankert ist, kommt es zunehmend zu juristischen Auseinandersetzungen. Im Nachbarstaat Arizona ging es zuletzt um die Frage, ob gewählte Gemeindevertreter der englischen Sprache sein sollten/müssen. (Man stelle sich dazu Heinz Buschkowsky und eine Bürgerin mit Migrationshintergrund bildlich in einer Neuköllner Bezirksvertretung vor).

In Compton sind die einzuschulenden Kinder spanische Muttersprachlicher und stellen damit die Schulbehörde des Los Angeles United School District (LAUSD ) vor das Problem, nach welchen Kriterien die Klassenzusammensetzung vornehmen sei. Im Moment hat sich die Behörde dafür entschieden, dass die Klasse gemäß den jeweiligen englischen Sprachfähigkeiten zusammengestellt wird. Was wiederum besorgte Eltern auf den Plan ruft, die befürchten, ihre Kinder bei einem Mangel an englischen Muttersprachlern nicht genug gefordert. Denn der Traum des sozialen Aufstieg ist und bleibt, wie soll es auch anders sein, eine Triebfeder.

Kalifornien und damit auch der LAUSD hat sich für die Teilnahme an der landesweiten Bildungsinitiative ‚Common Core Curriculum Standards‘ entschieden, die bis zum Herbst 2014 eingeführt werden soll und die nationale Vergleichbarkeit des Bildungssystems zum Ziel hat. Alle Kinder sollen grundlegende Algebra und Geometrie Fähigkeiten im Kindergarten erwerben. Das Anfertigen komplexer Aufsätze, die am Computer erstellt und bewertet werden, sollen die herkömmlichen Multiple-Choice-Tests ersetzen.

Im Zuge dessen hat die LAUSD, in einer wenig durchdachten Initiative, begonnen ihren Schülern 700 $ teure IPads (!) in die Hand zu drücken – die öffentliche Diskussion, iPad angst at LAUSD, steuert momentan auf ihren Höhepunkt zu und dürfte politische Opfer fordern.

“It can be done without government involvement”

Den Blick auf den Pazifik gerichtet gerät an der Westküste der USA, die eigene Ostküste aus dem Blickwinkel. Washington ist so entfernt oder so nah, wie der kalifornische Regierungssitz in Sacramento. Der Kongress und die beiden Regierungen sind mindestens so weit entfernt wie Berlin und Brüssel von Pfronten im Allgäu.

Überhaupt ist das Verhältnis der Angelenos zu ihren staatlichen Repräsentanten und Institutionen von einem gewissen Schulterzucken oder Ignoranz geprägt („Leave us alone“,). Auf keinen Fall, ist es das der Obrigkeit und des Untertanen. Arnold Schwarzenegger als Gouveneur oder als Actionheld? „He needs to do his job“. Von einem „Wir sind der Staat“ ist der amerikanische Durchschnittsbürger meilenweit entfernt.

Mehr als 60% der in Los Angeles lebenden Staatsbürger (native Americans), legalisierte Einwanderer (US-Residents) und illegalen Emigranten besitzen einen, nur für internationale Reisen notwendigen, Pass. Als Ausweis fungiert der Führerschein, der in Ermanglung eines nach europäischen Maßstäben funktionierenden öffentlichen Nahverkehrs sowieso ein existenzielles Muss ist. Auch die Personen, die sich illegal in Kalifornien aufhalten, erhalten seit diesem Jahr einen Führerschein, um "um sicher und legal zur Arbeit zu kommen."

Eine Meldepflicht, wie wir sie kennen gibt es in den USA nicht. Allerdings entpuppt sich die ‚grenzenlose Freiheit‘ im Alltag als die Erfahrung, dass ohne ‚Social security nummer (SSN)‘ der staatliche Rentenversicherung im Sozialversicherungssystem weder ein Telefonanschluss, noch ein Konto, noch ein Führerschein etc. möglich ist. Die letzten vier Ziffern der SSN sind als persönliche Identitätsnachweis Bestandteil jeglicher telefonischer verwaltungstechnischer Informationsbeschaffung.

https://db.tt/2h4jJt2l

Staatliche Wohlfahrt, wie Wohngeld, Essensmarken (foodstamps) oder andere finanziellen Beihilfen sind von Staat zu Staat unterschiedlich geregelt. Die Debatte in der öffentlichen Meinungsbildung gleicht in ihrem Für und Wider, der hierzulande. Dem Problem, dass angemessen bezahlte Arbeit weltweit als knappes Gut gehandelt wird begegnen auch amerikanische Meinungsführer mit der Behauptung, die Ausschöpfung aller (theoretisch) zur Verfügung stehender Beihilfen ergäbe in der Summe mehr, als die Entlohnung eines Geringverdieners.

Die diversen Bürgerservices sind nicht in speziellen Verwaltungsgebäuden untergebracht, sondern agieren in Büroetagen irgendwo im Stadtgebiet. Sie können auch telefonisch, über das Internet und mit Hilfe einer der zahlreichen Non-Profit Organisationen beansprucht werden. Ein gewisser Bildungsgrad, auch eine entsprechende staatsbürgerliche Mündigkeit ist wie bei jedem Verwaltungsakt, voraussetzt. Kostenlose Computernutzung und Internetzugang sind in den öffentlichen Bibliotheken kostenlos zu finden, selbst in Zeiten des Staatsbankrotts, da diese auf der lokalen oder staatlichen und nicht auf der nationalen Ebene organisiert sind.

1st published meta-ebene.de

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Geschrieben von

kmv

kmvotteler | Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn. (Ottilie, Die Wahlverwandtschaften)

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