Hochleistungssport 'Hartz IV'

Soziale Ungleichheit Die Organisation dessen, wovon ALG2 Bezieher erst mal ausgeschlossen sind, gleicht einer sportlichen Höchstleistung - allerdings ohne Aussicht auf Anerkennung

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Jobcenter in Düsseldorf: Das Verwaltungsorgan für Arbeitslose
Jobcenter in Düsseldorf: Das Verwaltungsorgan für Arbeitslose

Patrick Stollarz/Getty Images

Nö doch, sage ich betreten zu G., die ich zufällig in dem wohlsituierten Kaffeehaus und Restaurant treffe. Ja, ja doch sie, die da sitze und ein Glas Wein trinke - das ihren ALG2-Tagessatz für Nahrungsmittel verschlinge. Bei Licht gesehen sei Alkohol als ‚Genussmittel‘ ja aus dem ALG2 Satz heraus gerechnet, mokiert sie sich, tue jedoch ihrer Gemütslage gut.

Ich schäme mich für meine Irritation. Aus Diskussionen im Freundeskreis kenne ich die statischen und festgemauerten Ansichten, die mit ALG2 Beziehern und Arbeitslosen verbunden sind. Ich erlebe die diskriminierenden und stigmatisierenden Bilder, die Polittalkshowteilnehmer vor einem Millionenpublikum zu kennen geben und immer wieder neu hervorrufen. Die Ausgrenzung der sogenannten Hartz4er, 'diese Menschen mit der gewissen sozialen Auffälligkeit'. Wenigstens einer schlechten Ausbildung, dazu mindestens bildungsarm. Ganz sicher behaftet mit mangelnder Antriebslosigkeit oder erkannt als skrupelloser Sozialbetrüger.

In der Realität betrifft längere oder kürzere Arbeitslosigkeit und ALG2-Bezug generell, eine überaus heterogene Personengruppe. Ehemaligen Angestellte, Angehörige handwerklicher Berufe, Freischaffenden oder Selbstständigen mit schlechter Auftrags- oder Ertragslage, Hochschulabsolventen, Personen in Aus-oder Weiterbildung oder die Arbeitnehmer mit zu geringem Lohn bilden den Querschnitt unserer Gesellschaft. Völlig widersinnig tituliert sind sie ‚Kunden‘ im sogenannten Jobcenter. Jobs gibt es dort keine oder kaum, vielmehr ist das Jobcenter das Verwaltungsorgan für Arbeitslose. Der gemeinsamen Nenner den ALG2-Bezieher verbindet ist, dass sie allesamt, voll umfänglich oder in Teilen, ein staatliches Recht Anspruch nehmen!

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Das (Über)Leben als Arbeitsloser, Aufstocker, jedenfalls auf Hartz IV Niveau heißt Nicht-Verhungern und Nicht-Erfrieren zu müssen. Das ist kein zu verachtendes Recht. Verhungern und Erfrieren sind messbare, weil körperliche Größen. Aber darüber hinaus?

Streitthema ist von jeher die Frage nach der Lebensrealität, die als Grundlage des Existenzminimums gesetzt wird. Oder anders formuliert, zu hinterfragen sind ‚die wirtschaftlichen Verhältnisse‘ an denen die statistische Bedarfsberechnung sich ausrichtet, ebenso wie jene ‚Preis- und Nettolohnentwicklung‘, die der regelmäßigen Anpassung zu Grunde liegen scheint.

Selbstverständlich sind Personalkosten, Löhne, Sozialausgaben, und -leistung ein fragiles Gebilde. Budgets sind grundsätzlich begrenzt. Für den einen sind sie zu hoch, für den anderen zu niedrig. Allerdings frage ich mich schon, inwieweit die Zuständigen für jene statistische Regelsatzaufschlüsselung des Regelbedarfs noch reale Erfahrungswerte zu Rate ziehen. Schon so ein profanes Ding, wie die Klein-Reparatur-Klausel im Mietvertrag € 70 kann, kommt sie zum Tragen, ein ALG2 Monats Budget sprengen:

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€ 432,00 Gesamt-Monats-Budget für Allein-Stehende (Partner, Kinder m. Abzügen) (außer Miet- und Heizungspauschale sowie Krankenkasse) (01.01.2020)

€ ANTEIL AM REGELBEDARF

Nahrung, alkoholfreie Getränke 150,60 €

Freizeit, Unterhaltung, Kultur 41,43 €

Nachrichtenübermittlung 38,62 €

Bekleidung, Schuhe 37,48 €

Wohnen, Energie, Wohninstandhaltung 38,32 €

Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände 26,61 €

andere Waren und Dienstleistungen 32,26€

Verkehr 35,99 €

Gesundheitspflege 16,42 €

Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen 10,76 €

Bildung 1,12 €

Ergänzend: Immer mehr Bedarfsgemeinschaften sehen sich gezwungen, aus der Regelleistung Mietsalden auszugleichen. Grund, die steigenden Mieten bei unverändert gebliebener Mietkostenpauschale, speziell in den Ballungszentren.

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In meinem Kopf rotiert es: Der Friseur will doch fair entlohnt, Schuhe zum Schuhmacher gebracht, der Wintermantel in die Reinigung und Kleidungsstücke zur Änderungsschneiderei gebracht sein. Selbstverständlich. Zwar greife auch ich im Krankheitsfall erst mal zu bewährten Hausmitteln, aber das ist eine Entscheidung, die ich dem ganzheitlichen Erziehungsprinzip meiner Eltern entlehne. Rezepte, auch die für die Physiotherapiewerfe ich nicht in den Müll, angesichts des Zuzahlungsbeitrags. Die jährliche Zahnreinigung, die Gleitsicht Brillengläser verkörpern ebenfalls Werte, die meine Lebensqualität und mein persönliches Existenzminimum ausmachen. Ganz zu schweigen von den nicht lebensnotwendigen Extras, die den Alltag rund machen.

ALG2 Bezieher, aber auch Geringverdiener, leben gleich dem (historisch doch überholten?) Tagelöhner, der nie so genau weiß, wie er den folgenden Tag, die folgende Woche, das folgende Jahr überstehen wird und die nächste – unvorhergesehene größere Ausgabe, bestreiten soll. Noch scheint das auslösende Moment zu fehlen, das Arbeitslose und Geringverdiener, gleich welchen Couleurs, geschlossen, ihre politischen und sozialverträglichen Rechte einfordern lässt.

Erst die Moral dann das Fressen

Sie brauche das zum Durchatmen, das Glas Wein in gutbürgerlicher innerstädtischer Umgebung seufzt G.. Sportlich versuche sie das Leben mit ALG2 anzugehen, was sie sonst? Wobei erfolgreiche Akquise und Sponsoring den Unterschied ausmache. Gleich gehe es wieder ab ins Hamsterrad, die Organisation dessen, wovon ALG2 Bezieher erst mal ausgeschlossen seien. Sich am kulturellen Mehrwert des mittleren Lebensstandards zu messen, gleiche einer im Hochleistungssport anzusiedelnden, permanenten, logistischen Herausforderung. Leistung und Gegenleistung seien stets in Balance zu halten.

Eine Einladung zum Essen in einem der vielen Restaurants der Stadt beispielweise oder jener Opernbesuch zur Saisoneröffnung mit 25 EUR pro Karte, dennoch unerschwinglich. Die von den Gastgebern zugedachte Rollenverteilung sei klar, Finanzkraft vs. unbeschwerte Konversation . Der Vorschlag zum samstäglichen Marktbesuch löse allerdings jedes Mal von Neuem gemischte Gefühle in ihr aus. Es sei nicht Neid auf die Kaufkraft der Freunde. Vielmehr schmerze, die verlorene Selbstverständlichkeit, das eine oder andere käuflich ‚einfach so‘ zu erwerben um dann mit den Freunden zu kochen: „Nehmen wir den Rosmarinschinken bei Butter Lindner? Neue Kartoffel am Kartoffelstand? Vielleicht Eier vom Biobauer? Noch etwas beim Fischwagen?“ Sie ertappe sich dabei, wie in ihrem Kopf Preise sich automatisch umwandele in Bruchteile des Hartz IV Satzes. De facto sei ihr Wochenbudget für Nahrungsmittel schon am ersten Stand ausgegeben. Nicht immer mache es Freude eingeladen zu werden, manchmal fehlen schlichtweg die Kraft und die Ideen für immaterielle Gegenleistungen.

Medial sind die sogenannten Harzer mit höherer (Aus)Bildung, kaum sichtbar. Sie sind unauffällig, sie reihen sich eher nicht ein in die Schlange der Tafeln. Verwenden vielleicht die App TooGoodToGo oder nutzen das Angebot jener bayerischen Bäckereikette, die in der letzten Stunde vor Ladenschluss Vollwertbrot reduziert an den Mann und die Frau bringt. Wohl frisiert und gekleidet, durchaus gesellschaftsfähig und mit wachem Blick für gesellschaftliche Verhältnisse schlagen sie sich durch im Alltag. Unter ihnen sind Personen mit weniger stromlinienförmigen Lebensläufen. Andere räumten dem Privatleben einen höheren Stellenwert zu, als Karriere, materiellen Besitztümern und Leistungsdenken. Doch die Nischenjobs, in denen die bereitgestellte Tüchtigkeit leistungsgerecht bezahlt wurde, waren ‚betriebsbedingt‘ irgendwann weg. Ihre Familien, Freunde, Bekannte und Nachbarn arbeiten in den unterschiedlichsten Berufen und verdienen (noch) angemessen. Der eigene prekärer Status ist nur im absoluten Notfall ein Thema, zu weit weg von deren Alltag und strenggenommen sind das doch eh‘ ‚diese anderen‘.

Ihren Kindern versuchen sie das Stigma ‚Hartz IV‘ mit ganzer Kraft zu ersparen. Der dritte Grundsatz des ALG2, es sei ein "Mindestmaß an kultureller Teilhabe" zu gewährleisten ist deshalb für sie in der Regel mehr, als die gedachte Sportvereinsmitgliedschaft oder der Musikunterricht, wie sie das Bildungspaket vorsieht, das die staatlichen Sozialleistungen für Kinder ergänzt. Zukunft gerichtet trachten sie danach, dass ihnen die kulturellen Errungenschaften unserer Zeit vertraut werden, sei es die gedeckte Tafel, die entsprechende Umgangsformen oder der teilnehmende Blick auf das politische und kulturelle Tagesgeschehen.

Der Nachwuchs besucht die höhere Schule, strebt einen Lehrberuf an oder studiert Arbeitsplatz bezogen. Das Bildungsversprechen wird hochgehalten, wenngleich es für sie selbst nicht eingehalten wurde oder wird. Jene Kinder und Eltern sind gewohnt zwischen interner und externer Kommunikation zu unterscheiden. Der Schein soll gewahrt bleiben, auch wenn sie manchmal fast daran ersticken. Tagtäglich arrangieren sie sich aufs Neue, gelten den Mitwissern, als Lebenskünstler.

Bildung zahle sich dennoch aus

Nichts, gar nichts gehe ohne Hilfe eines persönlichen Netzwerkes. Ein Familienmitglied habe stillschweigend die Klassenfahrt übernommen, bis der Nachwuchs irgendwann, selbstbewusst mitteilte, es sei okay, mehrere in der Klasse brächten eine Bewilligung vom Amt mit. Die Unterstützer schenkten, als neue Schuhe anstanden, nicht nur jenen heiß ersehnten Sportschuh. Sie ließen den Nachwuchs, in einem der angesagten Sportläden der Stadt, die Auswahl treffen und seien erstaunt gewesen über die Freude, die eine doch so eine gängige Unternehmung, wie shoppen gehen in der Stadt, hervorgerufen habe. Die € 10 Taschengeld, vom Onkel monatlich auf das Teenager-eigene Konto überwiesen, habe sich allerdings als Flop erwiesen; sie waren der ‚Bedarfsgemeinschaft‘ als Einkommen abgezogen worden.

Bei notwendigen Anschaffungen sei logistisches Denken unerlässlich und gutes Zeitmanagement zahle sich aus. Wie zuletzt bei jenem Schreibtisch eines bekannten schwedischen Möbelherstellers, der es, dem Nachwuchs zuliebe, unbedingt sein musste. Zuerst der prüfende Gang durch die Wohnung, was verkauft werden könne. Als das Budget vorhanden war, dauerte es trotzdem. Die Schreibtische waren im Zweithandel gefragt und somit meist unbezahlbar. Irgendwann, sie meine sich zu erinnern, während eines Länderspiels der deutschen Nationalmannschlaft war das gesetzte Limit genug um den Zuschlag zu erhalten. Sie sei glücklich gewesen, der Verkäufer sauer, während ihre Freundin, die zum Abholen des guten Stückes bereit war, gedankenlos meinte, ihr selbst wäre dies doch alles zu umständlich. Sie wäre doch einfach in jenes Möbelhaus gefahren sein, um dort den Schreibtisch zu kaufen und mitzunehmen.

Die Scham, dass die Leistungen der eigene Vita keinen adäquat bezahlten Job wert sind, halte sich die Waage mit dem Zorn darüber, wie kenntnisarm und pauschal die öffentliche Debatte um Arbeitslosigkeit, Erwerbstätigkeit, wirtschaftliche Interessen und staatliche Hilfe sowie politischer Kontrollverlust, geführt würden. Sähe man genau hin seien 'die brummende Wirtschaft' , sowie 'Aufstocker' und 'prekäre Arbeitsverhältnisse' doch Kehrseiten ein und derselben Medaille. Dennoch reagiere sie leider bei den widersinnigsten Pauschalurteilen eher defensiv. Versuche sich Unterstellungen, wie Faulheit und Bequemlichkeit, vom Leib zu halten, indem sie sich erkläre, oder nahezu appellierend vorschlage, ihr einen passenden Job anzubieten und erst dann zu urteilen, wenn sie nicht standhalte. Sie arbeite daran, es habe etwas gedauert ihre Lage im Kontext einer gesellschaftlichen Problematik sehen zu können.

Ihr hülfen morgens beim Aufwachen, wenn Sorge, Trübsinn, Ruhelosigkeit schwer auf ihr lägen, die anerzogene Disziplin. Seltener allerdings bliebe sie im Bett liegen und hadere mit dem Gedanken, dass ein neuer, zu bewältigender Tag vor ihr läge. Sie habe allerdings überaus gemischte Gefühle bezüglich der - den Nachwuchs manchmal fast erdrückenden - Hoffnung, wenigstens seine Ausbildung und Berufswahl zahle sich eines Tages in bare Münze aus.

Aber weißt Du was, sagt sie und grinst plötzlich wie früher, du zahlst noch einen Wein oder zwei oder drei. Dann schwelgen wir in jenen Zeiten, in der wir qualmend, die halbe Nacht in der Kneipe saßen. Die Zukunft vor Augen. Nach Mitternacht, das übriggebliebene Tagesgericht vor uns auf dem Tisch. Dieses und das Tatsächliche des Lebens hungrig, lachend, schweigend, heulend, über- und untertreibend, teilend. Wohl wissend um jenen absonderlichen nächsten Morgen, den schweren Kopf, mit der vagen Erinnerung daran, gestern das Elend der Welt, zumindest das der Politik, redekräftig gelöst zu haben.

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Geschrieben von

kmv

kmvotteler | Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn. (Ottilie, Die Wahlverwandtschaften)

kmv

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