Ober sticht Unter.......

EU - oder, gut gedacht, schlecht gemacht.

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Die Europäische Union wird von vielen wahlweise als bürokratisches Ungetüm oder auch als “Gurkentruppe” bezeichnet, doch wird dabei stets eines ausser Acht gelassen, nämlich die Tatsache, dass “wir Alle” genau diese EU sind, und wir uns somit, bei aller, zum Teil sehr berechtigter Kritik, immer auch an die eigene Nase fassen sollten.

Dabei reicht bereits ein kurzer und oberflächlicher Bick in die EU-Vertragswerke um zu erkennen, dass die EU mitnichten als ein “bürokratisches Ungetüm” auf die Welt kam oder als solches geplant war. In Artikel 1 - 3 werden die Werte und Ziele der EU beschrieben, hier dominieren Formulierungen wie “Achtung der Menschenwürde”, “Wahrung der Menschenrechte”, “Toleranz, Gerechtigkeit” und “Solidarität”, aber auch “Frieden” und das “Wohlergehen ihrer Völker”.

Artikel 1:

“Durch diesen Vertrag gründen die HOHEN VERTRAGSPARTEIEN untereinander eine EUROPÄISCHE UNION (im Folgenden „Union“), der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen.

Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden.

Grundlage der Union sind dieser Vertrag und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden „Verträge“). Beide Verträge sind rechtlich gleichrangig. Die Union tritt an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie ist.“

Artikel 2:

“Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.”

Artikel 3

"(1) Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.

(2) Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem — in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität — der freie Personenverkehr gewährleistet ist.

(3) Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.

Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.

Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas."

In Artikel 3, Absatz 3 wird auf den EU-Binnenmarkt eingegangen, ergänzend werden auch hier Ziele (dieses Binnenmarktes) benannt. Es finden sich u.a. Formuliereungen wie “nachhaltige Entwicklung”, “soziale Marktwirtschaft”, “sozialen Fortschritt” und “Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten” . Als zu bekämpfende Auswüchse werden wiederum “soziale Ausgrenzung” und “Diskriminierungen” benannt.

Abgesehen davon, dass manche Zielsetzungen sich inhaltlich widersprechen, wie z.B. “Freiheit” und “Sicherheit” in Artikel 3, Absatz 2, wobei man davon ausgehen muss, dass hier jeweils ein ausgewogenes Verhältnis der beschriebenen Werte zueinander angestrebt wird, und auch, dass noch immer das unrealistische Ziel der “Vollbeschäftigung” verfolgt wird, kann sich wohl die sehr große Mehrheit mit den beschriebenen Grundsätzen und Zielsetzung einverstanden erklären.

Interessantes steht auch in Artikel 4 + 5, wo erstmals im Vertragstext darauf eingegangen wird, wie die zuvor beschriebenen Ziele erreicht werden sollen. “Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit.” Desweiteren in Absatz 2: “Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedsstaaten.” Weiter ausgeführt wird das Subsidiaritätsprinzip in Absatz 3 und 4. Insgesamt werden die Begriffe “Subsidiaritätsprinzip” oder “Subsidiarität” in Artikel 5 ganze sechs mal erwähnt.

Artikel 5

"(1) Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.

(2) Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.

(3) Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.

Die Organe der Union wenden das Subsidiaritätsprinzip nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an. Die nationalen Parlamente achten auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach dem in jenem Protokoll vorgesehenen Verfahren.

(4) Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus.

Die Organe der Union wenden den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an."

Hierzu ein Auszug aus Wikipedia:

“Subsidiarität (von lat. subsidium „Hilfe, Reserve“) ist eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Maxime, die die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung anstrebt. Danach sollten Aufgaben, Handlungen und Problemlösungen so weit wie möglich selbstbestimmt und eigenverantwortlich unternommen werden, also wenn möglich vom Einzelnen, vom Privaten, von der kleinsten Gruppe oder der untersten Ebene einer Organisationsform……..”

Definition des Subsidiaritätsprinzips für die EU

So weit, so gut. Bei konsequenter Anwendung dieses Prinzips, ist eine Überfrachtung mit Bürokratie und eine Machtkonzentration “an der Spitze” so gut wie ausgeschlossen.

Um die aktuelle Situation genauer einschätzen zu können, kommen wir allerdings um einen Blick auf das in Absatz 4 erwähnte “Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit” nicht herum.

Hier heisst es einleitend:

Artikel 1

Jedes Organ trägt stets für die Einhaltung der in Artikel 3b des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit Sorge.”

Vorschläge für den “Entwurf eines Gesetzgebungsakts” können allerdings nur von der Kommission, einer Gruppe von Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlaments, dem Gerichtshofs, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Investitionsbank unterbreitet werden.”

Desweiteren heisst es in Artikel 5:

“Jeder Entwurf eines Gesetzgebungsakts sollte einen Vermerk mit detaillierten Angaben enthalten, die es ermöglichen zu beurteilen, ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten wurden.”

Wobei das Wort “sollte”, hier bereits eine Einschränkung bedeutet, die, unter der starken Gewichtung, welche die Ansiedelung des Subsidiaritätsprinzips in Artikel 5 des EU-Vertrages geniesst, ungewöhnlich, um nicht zu sagen deplaziert, erscheint.

Und in Artikel 6:

“Die nationalen Parlamente oder die Kammern eines dieser Parlamente können binnen acht Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung eines Entwurfs eines Gesetzgebungsakts in den Amtssprachen der Union in einer begründeten Stellungnahme an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission darlegen, weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist.”

Auch hier erscheint eine Einspruchsfrist von weniger als zwei Monaten, erneut vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips, als äusserst kurz bemessen, insbesondere wenn man davon ausgeht, dass der parlamentarische Betrieb in den meisten Mitgliedsländern in den Sommermonaten für eine ähnlich lange Periode fast vollständig zum Erliegen kommt.

Abschliessend in Artikel 7:

“….Jedes nationale Parlament hat zwei Stimmen, die entsprechend dem einzelstaatlichen parlamentarischen System verteilt werden. In einem Zweikammersystem hat jede der beiden Kammern eine Stimme.”

Für Deutschland bedeutet dies, dass sowohl der Bundestag, als auch der Bundesrat befragt werden und beide je eine Stimme zählen.

“(2) Erreicht die Anzahl begründeter Stellungnahmen, wonach der Entwurf eines Gesetzgebungsakts nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten nach Absatz 1 Unterabsatz 2 zugewiesenen Stimmen, so muss der Entwurf überprüft werden. ……..”

“(3) Außerdem gilt im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens Folgendes: Erreicht die Anzahl begründeter Stellungnahmen, wonach der Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, mindestens die einfache Mehrheit der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten nach Absatz 1 Unterabsatz 2 zugewiesenen Stimmen, so muss der Vorschlag überprüft werden. ……..”

Und zuletzt:

“b) Ist der Gesetzgeber mit der Mehrheit von 55 % der Mitglieder des Rates oder einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen im Europäischen Parlament der Ansicht, dass der Vorschlag nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, wird der Gesetzgebungsvorschlag nicht weiter geprüft.”

Der innere Widerspruch dieser Konstruktion, nämlich einerseits, dass.: “Jedes Organ stets für die Einhaltung der in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit Sorge trägt”, und der Tatsache, dass eben auch genau diese Organe, ergänzt durch einen Zusammenschluss mehrerer Mitgliedsstaaten, die EU-weite Gesetzgebung bestimmen, weil sie die einzigen sind, die EU-Gesetze auf den Weg bringen können, ist offensichtlich.

Geht man von einem vorhandenen Machtwillen bei den Politikern in all den Organen der EU aus, dann ist es ziemlich unsinnig, genau diese Politiker mit der Entscheidung zu betrauen, eben diese Machtfülle von sich selbst fernzuhalten. Ganz im Gegensatz, würde es Sinn machen, grundsätzlich davon auszugehen, wie es der reine Vertragstext ja auch nahelegt, dass grundsätzlich das Subsidiaritätsprinzip zu gelten hat, und dass Initiatoren von nationalen oder europaweiten Gesetzesvorhaben den Vorteil einer solchen Organisationsform gegenüber dem regionalen Subsidiaritätsprinzip, an Hand von wissenschaftlichen Studien und Beispielen aus anderen Ländern, zu belegen haben.

Mit einer solchen Auslegung, wäre man am nächsten am ursprünglichen Ziel für die EU, derzeit in Artikel 3 der EU-Verträge angeführt: "Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern", denn bisher ging noch kein expansiver Angriffskrieg aus regionalen Strukturen hervor.

Eine EU die nach dem Prinzip “viel hilft viel” arbeitet, wie es derzeit häufig erscheint, die mehr und mehr an Vertrauen bei der Bevölkerung einbüßt und in der aktuell die TTIP- und TISA- Vertragswerke im geheimen verhandelt werden, mit deren Annahme das Regionalprinzip endgültig zu Grabe getragen würde, in eine EU zu verwandeln, die sich einem “small ist sexy” hinwendet, könnte verlorenes Vertrauen wieder herstellen und bei vielen überhaupt erst ein Bewusstsein über den eigentlichen Sinn dieser Gemeinschaft wecken.

Einer solchen Entwicklung, steht das Vertragswerk der EU in keiner Weise im Weg, sondern ganz im Gegenteil. eine Machtumverteilung entsprechend dem ursprünglichen Vertragssinn und –zweck könnte durch simple Änderungen in den Verfahrensprotokollen erreicht werden, wenn man es denn wollte.

Weiteres Material:

Konsolidierte Verträge der EU

Organe der EU

Rekommunalisierung öffentlicher Dienstleistungen in der EU

Plurilaterales Abkommen TISA - Schweiz

Kleine Anfrage der "Linkspartei" zu TISA

TAZ - Freihandel im Hinterzimmer

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Geschrieben von

knattertom

reisewütiger Mit40er der "D" den Rücken gekehrt hat, um neues zu entdecken. Interessierter Beobachter von aussen so to say...: knattertom@freenet.de

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