Chancen des Naheliegenden im Leben

Lebensvorsatz Abstriche des Wegs und seelische Narben

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Dieser Tage sind zwei betagte Damen verblichen, von denen sich sagen läßt, daß sie überaus gegensätzlich waren.

Die Tochter von Heinrich Himmler zum einen, und Simone Veil zum anderen.

Die Erstere durfte unbeirrt und unverschämt bleiben wie sie aufgewachsen war, und ward ob Rehabilitierung der Altnazis durch die Siegermacht USA bestens daheim aufgehoben. Zeitweilig mit gutdotiertem Posten beim BND und, Hörensagen nach, sogar mit Staatspension für ihren Herrn Vater gesegnet.

Auf jeden Fall von Resozialisierung keine Spur; indes von reichlicher Verhätschelung und Alimentation, die es ihr überdies erlaubte, Gefährten ihres alten Herrn zu finanzieren.

Anders als Simone Veil, die zusammen mit ihrer Schwester als einzige ihrer Familie KZs überlebte und nach der Befreiung zusehen mußte, Nahrhaftes auf kargen Teller zu bekommen. Unsäglich, auch nach dem Krieg noch von Schicksalsschlägen, gemartert und zugleich ungewöhnlich stark. Als Person immer wieder stark.

Auch beruflich schaffte sie es bis in den obersten Staatsapparat.

Nach ihrer Berufung zur Ministerin, mit größter Hingabe so viele Gefängnisse aufsuchend, wie sie konnte und sich dann für eine Verbesserung der Haftzustände inhaftierter und bis dahin mißhandelter Algerierinnen einsetzend. Unzweifelhaft bedeutsame, dringliche Verwendung ihrer Amtsgewalt.

Dennoch: Was auf der Hand liegt, findet im Leben nicht unbedingt Verwirklichung.

Als Kind oder Jugendlicher, wäre man sicher versucht, in Anbetracht ihrer ins grauenhafteste ausgearteten Erfahrung mit willkürlicher Macht, von einigen Zielsetzungen auszugehen, die sich Frau Veil zu eigen gemacht hätte.

So wie es einem selbstverständlich scheint, daß beispielsweise ein aus dem Proletariat aufgestiegener Wirtschaftsboß seinem entstiegenen Ambiente besonders zugewandt und verständig zu sein habe. Oder etwa ein malträtiertes Kind als Erwachsener miede, die Beschaffenheit seiner Quälgeister nachzuleben, oder Benachteiligte besonders sozial eingestellt seien, usw.

Also eine Vielfalt des Naheliegenden, und wie man später zu erkennen hat, Wendungen im Leben doch oft fern.

In vielen Fällen denkt etwa der Parvenü nicht daran, eine Gelegenheit zu nutzen, als Höhergestellter Güte für Underdogs an den Tag zu legen. Gedachtem Makel seiner Abkunft fliehend, entwickelt er nicht selten gegenteilig Aversion und Harsch. Statt einem Mandat für Untergebene und Bedienstete gnadenloseste und eitelste Regentschaft aufweisend, um sich von der Kinderstube abzusetzen.

Durch Jähzorn und Gewalt Traumatisierte wiederum zählen als Erwachsene nicht zwangsläufig zu den Gütigen, sondern nicht selten zu entgleisender Patronage, da sich durchlebtem Verhaltensmuster ohne bewußtes Entgegenwirken nur schwerlich entziehen läßt. (Man sich u.U. desperat bei eigenem Unwesen beiwohnt.)

Warum unterdessen auch nur solche wie Willie Brandt oder Kurt Schuhmacher nach all der Einsicht in Wesentliches, in der Nachkriegszeit zu schnöden Dienern pekuniärer Elite wurden, obliegt wohl Abstrichen zugunsten kommoder Trivialität in persönlichem Fortkommen.

Und wieso gar erst einer Hölle wie der eines KZs Entkommene nicht allesamt als hehre Botschafter und auf Nukleus des menschlichen Daseins Fixierte hervorkamen, begründet sich für einen Teil der Schicksale auf Begebenheiten im Abgrund solchen Lagers.

Der SPIEGEL beschrieb vor Jahrzehnten, daß sich die grausame Totalität wie ein Charaktersieb auswirkte. (Was ja im Grunde jede Diktatur mit sich bringt.) Aufrechte, Mitfühlende und Aufopfernde ereilten Schikane und Tod am schnellsten. Umgekehrt überlebte am ehesten, wer eigenem Verbleib Vorrang gab.

Frau Simone Veil berichtete nach Jahrzehnten der Zurückhaltung (in ihrer Zeit als öffentlicher Person, wußte Frankreich zunächst nicht von ihrem Leidensweg) dann auch, daß empathische und großzügige Seelen wie die ihrer Mutter und Schwester ausgenutzt worden wären und bald das Zeitliche gesegnet hätten, wenn sie ihnen nicht eingreifend beigestanden hätte, die sich dazu bekannte, härter sein zu können.

Überlebenswille war es vielleicht auch, der sie später davon abhielt, als hochstehende Persönlichkeit gegen zentralisierte Macht, indirekte Demokratie und Korruption vorzugehen.

Ein Grund dafür, warum sie zuließ, daß aus der Europäischen Gemeinschaft statt eines Verbunds der Völker einer von Industrien und Eliten wurde. Einem Bestellsystem unbeschwerten Abseihens der Landschaften und Menschen.

Sie wollte, daß es keinen Krieg und vor allem keinen Albtraum wie das Dritte Reich mehr geben sollte. Und zugleich vermochte sich ein Dämon wohl nicht aus dem Nacken zu lösen, der ihr einst verhieß, wie weit man den Hals aus dem Panzer strecken darf.

Ähnliche Narben dürften Nelson Mandela eingeschränkt haben, der seinem Land statt einer Demokratie einen Selbstbedienungsladen der Nomenklatur hinterließ. Er umschiffte gleich alle Riffe und gefiel sich in der Rolle des netten Onkels so sehr, daß er die Menschen, für die er sich ursprünglich eingesetzt hatte, vergaß.

Sich gegen Verrat an der Demokratie, Lobbyismus, Postenschacher und Staatsplünderei zu verwenden, führt nun einmal leicht auf den Weg des Mohammed Mossadegh, Salvador Allende oder Olof Palme.

Daß rebellische Brisanz zum anderen insbesondere verschreckt, wer den Atem unverhandelbarer Rigidität im Leben bereits verspürt hat, ist niemandem zu verdenken.

Es gibt immer wieder einmal Individuen, die aus Kerkern entlassen und selbst nach Folter noch unverdrossen, erneut Systemkritik anbringen. Unfaßliches Rückgrat, das ihnen allzu häufig zum Schicksal wird, und heroische Unbeugsamkeit, die man zugleich von niemand verlangen kann.

Es kann nicht immer Spartakus aus Gittern hervortreten.

In der Lebensrealität ist, trotz vertaner Chancen zu authentischer Gemeinschaft in Frankreich und der EU, Frau Veil für guten Willen und die Courage zu danken, die sie aufgebracht hat.

Für ein Engagement nicht zuletzt auch ihrer sehr sympathischen Hinterbliebenen zuliebe, denen anzusehen ist, wie ihnen ein großherziger Mensch aus dem Leben gerissen worden ist.

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Geschrieben von

Knossos

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Knossos

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