Absprung von der Kippe

Kinderarbeit in Nikaragua Ein Hilfsprojekt und das schimmlige Brot der Deponie

Fredy Manzanal hustet, blickt von seiner Arbeit auf, streckt den schmerzenden Rücken, der rechte Unterarm reibt die schmutzige Stirn - und alles beginnt von vorn. Ein orangefarbener Müllwagen hält am Rand der Deponie, die nächste Fuhre. Mit einem leisen Seufzer greift Fredy nach seiner Holzstange mit dem Metallhaken am Ende und beginnt wieder, im Unrat der Stadt León nach Verwertbarem zu suchen. Barfuss steht der Halbwüchsige, an dessen Mundwinkel sich erste Falten zeigen, mitten in den Abfällen, der Gestank der Fäulnis hängt über ihm. Gedärme liegen herum, auf denen sich Heerscharen dicker Fliegen tummeln. Flaschen, Dosen, Metall bringen einige Centavos, mit denen der Junge seinen Vater und die kleineren Geschwister unterstützt. Ein Stück schimmliges Brot taucht zwischen rostigen Coca Cola-Büchsen auf. Fredy Manzanal bückt sich, hustet, blickt von seiner Arbeit auf, streckt den schmerzenden Rücken, der rechte Unterarm reibt die schmutzige Stirn - und ...

"Mit acht kam Alejadnro zu ersten Mal auf die Deponie ..."

70 reciclajistas (Müllsammler) arbeiten an der Peripherie von León - unter ihnen ein knappes Dutzend Kinder. "Manchmal sind es weniger, manchmal mehr", sagt Carlos Melendéz vom Hilfsprojekt Niños del Fortín. Er kommt von Zeit zu Zeit am Fortín vorbei, wie die an einer alten Festung gelegene Deponie heißt, um Kontakt mit den Kindern zu finden und sie in das nahegelegene Domizil seines Projekts zu lotsen. Dort gibt es eine warme Mahlzeit, vor allem aber ärztliche Hilfe, weil die Kinder oft nicht nur an Hautinfektionen, sondern auch an akuter Entkräftung leiden. Niños del Fortín bietet bei Bedarf sogar neue Kleidung. Doch viele Eltern können oder wollen nicht auf die Einnahmen ihrer Sprösslinge verzichten und verbieten den Besuch dieses Refugiums. Zu ihnen gehöre auch der Vater von Fredy Manzanal, meint Carlos. Mehrmals habe er dessen Familie finanzielle Hilfen angeboten. Sie sollten den Jungen statt auf die Müllkippe in die Schule schicken. Doch der Kredit von 6.000 Cordoba (460 Mark), den der Fonds als Ausgleich zahlte, war schnell versickert - und Fredy trottete wieder in Richtung Fortín.

"Ein Hundeleben. Der Junge muss die Last eines Erwachsenen tragen", ärgert sich Carlos. "Nichts weiter als ein Arbeitstier. Den Vater interessiert nur, wie viel Cordoba Fredy nach Hause bringt, die er dann versaufen kann."

Glücklicherweise reagieren Eltern auch anders, wenn bei ihnen die Sozialarbeiter von León vorsprechen. Einige Mütter und Väter haben aus dem Sozialfonds des Projektes Kredite erhalten, um sich selbstständig zu machen, was allerdings per Vertrag die Verpflichtung einschließt, die Kinder nicht mehr auf die Deponie zu treiben. Der Vater von Dickson Tapia etwa hat sich mit dem Geld Werkzeug gekauft und arbeitet nun als Mechaniker. Dickson ist elf und geht wieder regelmäßig zur Schule. Mit fünf stand er zum ersten Mal im Dreck.

"...mit acht begann er Klebstoff gegen den Hunger zu schnüffeln"

Die meisten Eltern sind bettelarm und schlagen sich bestenfalls mit Gelegenheitsarbeiten durch. Etwa 60 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Leóns, der zweitgrößten Stadt des Landes, sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Bis in die achtziger Jahre hinein lag hier die Metropole der nikaraguanischen Baumwollproduktion, doch als 1983/84 die Weltmarktpreise wie im freien Fall abstürzten, wurde der Anbau in der Region fast vollständig eingestellt. "An alternative Produkte war nicht zu denken. Die mit Pestiziden verseuchten Böden haben sich bis heute nicht erholt", erzählt Carlos. Der 27jährige ist der Direktor der Niños del Fortín und hat dieses Projekt, das zwischenzeitlich über 150 Kinder betreut, 1995 mitbegründet. Die meisten davon kommen nicht nur täglich zum Essen, vielfach bleiben sie nach der Schulzeit für die restliche Zeit des Tages im "Projekt", weil dort Nachhilfe-Unterricht erteilt sind. Der 15jährige Alejandro zum Beispiel ist darauf angewiesen, gemeinsam mit Teresa Valladares, einer 34-jährigen Lehrerin, seine Hausaufgaben zu erledigen. "Mit acht kam Alejandro zum ersten Mal auf die Deponie von León, mit acht begann er Klebstoff gegen den Hunger zu schnüffeln, mit 15 fällt es ihm nun extrem schwer, stundenlang ruhig zu sitzen und sich zu konzentrieren", erzählt Teresa. "Aber wir müssen die Kinder motivieren, denn als Analphabeten haben sie keine Chance auf eine Ausbildung und landen erneut auf der Straße."

Die Analphabetenquote ist im vergangenen Jahrzehnt geradezu explodiert - 27 Prozent sind es mittlerweile wieder, die weder lesen noch schreiben können. Eine deprimierende Bilanz angesichts einer Quote von unter fünf Prozent, bei der Nikaragua 1990 - zum Zeitpunkt der Machtwechsels von den Frente Sandinista zu den bürgerlich-konservativen Parteien - lag. "Die damals gewählte Präsidentin Violeta de Chamorro hat das Budget für die öffentlichen Schulen sofort völlig heruntergefahren", erinnert sich Teresa. "Dabei ist Bildung der Schlüssel, wenn wir überhaupt eine Zukunft haben wollen."

Für viele Familien in León bleibt Bildung ein Luxus. Das beginnt schon bei der matricula, der Einschreibegebühr für den Schulbesuch. Hefte und Schreibzeug sind ein weiterer Kostenfaktor für bitterarme Familien, die durchschnittlich sechs bis acht Kinder haben. Die 150 Schüler, die von Carlos, Teresa und sieben anderen Sozialarbeitern betreut werden, zahlen keine Gebühren. Sie sind auf Initiative von Niños del Fortín befreit, doch kann sich dass Projekt sein großzügiges Engagement in Sachen Ausbildungshilfe nur leisten, solange Spenden aus dem Ausland, darunter aus Deutschland, fließen.

Teresa hofft, dass es Daniel Ortega für die FSLN diesmal schafft und die matricula nach den Wahlen fällt. León gilt wieder als Hochburg der Sandinisten, auch der Vater von Dickson, der täglich bei der Essensausgabe hilft, trägt ein T-Shirt der FSLN. Er gehört zum Elternrat, dessen Mitglieder in das Projekt einbezogen werden. Sie helfen in der Küche oder bei der Instandhaltung des Gebäudes. Einmal im Monat wird getagt, dann kommt nicht zuletzt zur Sprache, wie der verbreitete Alkoholismus im Viertel eingedämmt werden kann oder mit Familien umgegangen werden soll, in denen Kinder misshandelt werden. Die Elterntreffen, an denen immer auch ein oder zwei Sozialarbeiter teilnehmen, hätten alle spürbar für die Welt ihrer Kinder sensibilisiert, ist Carlos überzeugt. Das Ansehen des Projektes sei gewachsen, weil Niños del Fortín unablässig nach Ausbildungsplätzen für die Kinder suche. Demnächst solle ein Modellversuch mit 50 Jugendlichen starten, für jeden gäbe es eine Perspektive. Auch für Alejandro, der noch genau ein Jahr in das Projekt kommen kann, um seinen Grundschulabschluss nachzuholen. Doch dann, mit 16, ist Schluss. "Ein Ausbildungsplatz im Anschluss wäre ideal für ihn", sagt Carlos. Vier Varianten kämen in Frage: Maurer, Klempner, Elektriker oder Elektroinstallateur, "wenn wir ihn da nicht unterbringen, wird er irgendwann wieder auf der stinkenden Deponie stehen".

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