Brasiliens Landlosenbewegung hofft dank Lula auf zweiten Frühling
Reportage Seit 1984 ist die MST einer der großen zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüsse Brasiliens. Dessen Wiege steht im Bundesstaat Bahia, wo die Aktivisten inzwischen auf den gewonnenen Flächen eine nachhaltige Landwirtschaft betreiben
25 Landbesetzungen, wie hier, und 31 MST-Camps gibt es derzeit allein im Bundesstaat Bahia in Brasilien
Foto: Imago/Panthermedia
Patricia Marchi de Almeida reckt die linke Faust vor der roten Fahne der Landlosenbewegung (MST), die vor der Auffahrt zur Stadtverwaltung von Santa Cruz de Cabrália gespannt ist. Seit drei Tagen ist die in einem ehemaligen Kolonialgebäude untergebrachte Behörde besetzt. Zelte sind im Innenhof aufgebaut, Schlafmatten liegen auf der Terrasse, während die Büros weitgehend unberührt bleiben. Strikte Disziplin wollen die gut 120 Mitglieder walten lassen. „Wir protestieren hier gegen einen selbstherrlichen Bürgermeister, der seine Arbeit nicht macht und unsere Rechte verletzt“, erklärt die 35-jährige Bäuerin Patricia Marchi entschlossen. Sie gehört seit fast zehn Jahren zur Bewegung der Landarbeiter ohne Boden im Bundesstaat Bah
Bahia.Der stellt so etwas wie die Wiege dieser Vereinigung dar. Seit 35 Jahren ist die MST mit Schulprojekten, Landbesetzungen und kollektiven Anbauprojekten in dem äußerst potenten Agrar-Bundesstaat präsent und verankert. „In den vergangenen sechs Jahren standen wir unter einem enormen Druck. Landflächen, die wir besetzt hatten, wurden unter dem Präsidenten Jair Bolsonaro durch Militärpolizei wieder geräumt. Selbst etablierte Einrichtungen wie unsere agro-ökologische Schule Egídio Brunetto standen unter polizeilicher Beobachtung“, so Patricia Marchi.Sie zählt zur rund 50-köpfigen Führungsriege von Bahia und leitet gemeinsam mit einem Kollegen im Landkreis Santa Cruz Cabrália die lokale Bewegung. Etwa 6.000 Familien fühlen sich ihr zugehörig. Im gesamten Bundesstaat sind es mehrere Zehntausend und landesweit annähernd 530.000 Familien, die sich zur MST bekennen, schätzen Sozialwissenschaftler. Es handelt sich um einen der großen zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüsse Brasiliens, entstanden nach dem Ende der Militärdiktatur 1984, von Anfang an verleumdet und angefeindet. Diese Aktivisten stellen den gesellschaftlichen Status quo auf dem Land infrage, sie treten für eine Agrarreform ein. Daran hat sich bis heute nichts geändert. „Im Augenblick gibt es 25 Landbesetzungen und 31 MST-Camps allein in Bahia“, erzählt Patricia Marchi, und der Stolz in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.Dank Gerichtsentscheidungen ist die MST in 24 von 26 Bundesstaaten vertretenBei den Landbesetzungen beruft sich die MST auf den Artikel 186 der Verfassung. Demnach hat Land eine soziale Funktion und muss adäquat genutzt werden. Geschieht das nicht, leitet die MST daraus das Recht ab, dieses Terrain zu besetzen. Die zentrale MST-Parole: „Das Land denen, die es bestellen“. Immer wieder haben Gerichte der Bewegung recht gegeben und Landtitel für brachliegende Anbauflächen zuerkannt. Ein Grund dafür, dass die MST heute in 24 der 26 Bundesstaaten sowie im Hauptstadtdistrikt Brasília ihre Filialen hat. Patricia Marchi ist stolz darauf, diese Präsenz gegen den reaktionären Bolsonarismus verteidigt zu haben.Wie sich die MST behauptet, zeigt die Besetzung in Santa Cruz Calábria, der Hafenstadt fünfzig Kilometer nördlich vom kolonial geprägten Porto Seguro. Der Ort mit seinen 25.000 Einwohnern lebt von weißen Sandstränden, dem Tourismus, der damit einhergeht, und der Landwirtschaft. In dieser Gegend wird viel Kaffee geerntet. Es gibt riesige, für die Zellstoffproduktion gepflanzte Eukalyptus-Plantagen. Hinzu kommen MST-Familien, die auf besetzten, teils juristisch erstrittenen Flächen einen ökologischen Anbau betreiben. Was an Getreide und Obst anfällt, lässt sich freilich im Umfeld von Santa Cruz de Cabrália nur schwer zu den nächstgelegenen Märkten und verarbeitenden Betrieben transportieren. Dafür machen die MST-Aktivisten den Bürgermeister verantwortlich. Er lasse die Infrastruktur der Gemeinde verkommen. „Tiefe Schlaglöcher in den Straßen sind nicht genug. Ein trauriges Zeichen der Verwahrlosung ist eine Brücke, die bei einer Flut weggeschwemmt, aber nicht wiederaufgebaut wurde“, nennt Patricia Marchi zwei Anlässe für Protest und Widerstand.Placeholder image-1Der konservative Bürgermeister, ein Bolsonaro-Anhänger, ist trotz zweier Treffen mit der MST untätig geblieben und unterlässt es, die zerstörte Brücke erneuern zu lassen, sodass den Kindern aus dem MST-Camp ein langer Umweg zur Schule aufgezwungen ist. Das sei unzumutbar, meint Patricia. Brauche man nicht eine bessere Bildung in den ländlichen Regionen? Seien sie nicht diejenigen, die für eine nachhaltige Landwirtschaft und gesunde Ernährung sorgten? In den vier Jahren unter der Regierung von Jair Bolsonaro zählte all das nicht viel. Doch werde sich das unter dem Nachfolger Lula ändern, ist sich Patricia sicher. Viele ihrer Mitstreiter seien für ihn in den Wahlkampf gezogen. Man klebte Plakate mit dem Logo der Landlosenbewegung – einem Kleinbauernpaar mit Machete vor dem Umriss Brasiliens – und dem Aufdruck „Ich bin für Lula und die Demokratie“.Für Patricia ist der 39. Präsident Brasiliens das personifizierte Versprechen für den Neuaufbau der demokratischen Institutionen, die sein Vorgänger häufig missachtete. „Bolsonaro hat die Arbeit von Kontrollinstanzen, die im Arbeitsministerium oder in der Ombudsstelle für Menschenrechte angesiedelt sind, durch gekürzte Gelder erschwert und aktiv Politik für die Agrarlobby gemacht.“ Die habe dem Bolsonaro-Clan zweimal den Wahlkampf finanziert. Nur sei deren agro-industrielles Produktionsmodell nicht kompatibel mit den Vorstellungen nachhaltigen Wirtschaftens, für die sich Lulas Regierung einsetzen wolle.Parallel dazu soll der Raubbau in der Amazonasregion bis 2030 auf null reduziert werden, wie das die engagierte Umweltministerin Marina Silva verkündet. Das werde von der MST ausdrücklich unterstützt, so Edi de Silva, den alle nur „Preto“ nennen. Er gehört zur MST-Führungsriege in Bahia, kümmert sich um das Netz von Bio-Läden des Labels „Armazém do Campo“ und deren Versorgung. Er ist deswegen viel im Süden des Bundesstaates unterwegs, wo sich auch die agro-ökologische Schule Egídio Brunetto befindet. Dort werden nicht nur Lebensmittel produziert und in kleinen Margen weiterverarbeitet, sondern auch Anbaukonzepte erdacht und weitergegeben. Seminare von Bauern für Bauern werden angeboten, denn die Mehrheit der Lehrer, die sich um Anbauexperimente auf dem Zwölf-Hektar Gelände der Bio-Schule kümmern, ist der MST verbunden. Das gilt auch für „Preto“ und seine Kollegin Patricia, die seit ihrer ersten Landbesetzung viele Phasen der Bauernorganisation durchlebt haben.Kleinbauern, wie die der Landlosenbewegung, wollen sichtbarer werden„Bei uns kommt es gar nicht erst dazu, dass bestimmte Köpfe mit bestimmten Aufgaben in Verbindung gebracht werden und in den Fokus von Gewalttätern geraten“, erklärt „Preto“. Neben ihm steht die für die Koordination auf nationaler Ebene verantwortliche Liu Durāes und nickt zustimmend. Die charismatische Frau, die unweit der Schule in der Gemeinde Prado in Tuchfühlung mit der MST aufgewachsen ist, wird in ein paar Monaten die Koordination wieder abgeben – zu ihrem eigenen Schutz und dem der MST. „Völlig normal und ein Geheimnis unserer tragfähigen Strukturen“, meint „Preto“. Er hat gemeinsam mit Durāes dafür gesorgt, dass die Bewegung zuletzt in der Region wieder sichtbarer wurde.Ein erstes Bio-Restaurant unter dem Label des Bio-Ladens „Armazém do Campo“ ist im benachbarten Porto Seguro eröffnet worden. Das Konzept dahinter heißt: „Erkennbar sein“, so Liu Durāes. „Wir Kleinbauern produzieren in Brasilien gut achtzig Prozent der Lebensmittel, meist agro-ökologisch. Wir stehen für ein nachhaltiges Wirtschaftskonzept“, so die Afrobrasilianerin. Das soll nicht nur bei der Regierung in Brasília ankommen, sondern auch in der brasilianischen Gesellschaft. Für dieses Ansinnen könnte sich die kleine Bio-Kette „Armazém do Campo“ als exzellente Idee erweisen.Das Angebot aus Kaffee, Kakao, Chilis, eingemachtem und frischem Gemüse sowie Milchprodukten soll stetig zunehmen, hoffen Liu und „Preto“. Hinzu kommt der Versuch, über das Schulprojekt weitere Farmer für einen Bio-Anbau zu gewinnen und eine Brücke zu schlagen Richtung Wissenschaft und Weiterverarbeitung. Jedenfalls werden die Besetzer von Santa Cruz de Cabrália bereits komplett über die eigenen MST-Strukturen versorgt. Für die Koordinatorin der Besetzung, Patricia Marchi de Almeida, genauso eine Selbstverständlichkeit wie für Liu und „Preto“. Bei ihnen ist nach den Bürden des Bolsonarismus der Optimismus zurück. In ihnen lebt die Erwartung, etwas für die unerlässliche Erneuerung Brasiliens leisten zu können. Ob das gelingt, wird sich recht schnell zeigen.Placeholder authorbio-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.