Es war einmal ein Feuilleton. Dort wurden ästhetische Debatten entfacht. Dort spürten nachdenkliche Autoren bis dahin unbekannten Perlen der Künste nach. Es konnte passieren, dass einem beim Lesen von Kritiken die Lust überkam, sich auf etwas Neues einzulassen. Sei es nun ein Film, ein Roman, ein Theaterstück, eine CD oder eine Ausstellung. Dass Leser immer wieder mit Kenntnis und Sprachgefühl verführt wurden, sich abseits der ausgetretenen Pfade auf anregende Entdeckungsreisen einzulassen. Das Feuilleton war einmal ein Ort, an dem Kunstwerke vor allem nach ihrer Qualität gewichtet wurden.
Das scheint lange her und klingt wie ein seliges Märchen. Es war die sagenumwobene Zeit, als das Feuilleton noch Zeit hatte, ausführliche Geschichten über Menschen zu erzählen, die es ernst meinen mit der Kunst, die immer wieder neue, oft schwankende Wege erproben, dabei Sackgassen und Irrtümer ebenso in Kauf nehmend wie eine finanzielle und künstlerische Randexistenz. Doch wer kennt heute noch eine Filmautorin wie Chantal Akerman? Der Kinostart ihrer feinsinnigen, leisen Proust-Verfilmung La Captive - Die Gefangene ging unlängst unter im lärmenden Konzert von angesagten Thrillern und Blockbustern.
Das verwundert heute natürlich nur noch "uncoole" Geister; jene, die noch immer nicht Frieden schließen wollen mit den Verheißungen der Kulturindustrie. Und dieser von Adorno stammende Begriff überführt letztlich den, der ihn heutzutage ohne Ironie verwendet, als einen ewig Gestrigen. Als uncool charakterisierte Ulrich Fuchs jüngst in der Süddeutschen Zeitung den Philosophen Adorno, weil dieser einst als "Stahlbad des Fun" brandmarkte, was der Autor anlässlich der Verleihung der diesjährigen MTV-Awards in Barcelona viel lieber einfach als "Pop" feiern möchte. Das längst inflationär und unpräzise gewordene Label "uncool" schließt aus, setzt Grenzen. Es brandmarkt Versuche, sich nicht mit dem Zeitgeist gemein zu machen. "Die ganze Welt wollte mit einem Mal cool erscheinen", erläutert Ulf Poschardt in seinem lesenswerten und differenzierten Buch zum Phänomen: "Cool". Letzteres erschaffe "die Aura einer selbstbewussten Modernität und Stilisiertheit."
Cool also - in Augenhöhe mit der Aktualität - ist es zu erwähnen, dass Kylie Minogue in Barcelona ein durchsichtiges Top trug, das ihre Brustwarzen sichtbar werden ließ. Dem geneigten Leser empfiehlt Fuchs zudem das neue Video von Christina Aguilera zur Ansicht. In einer Art Folterkeller darf der Zuschauer die mit einem roten Slip und einem Hauch von Minirock bekleidete junge Frau bei ihrer Kopulationsgymnastik in Augenschein nehmen. Warum dieser Text zum Aufmacher geadelt wurde? Na klar, durchsichtige Tops sind "Pop" und der ist stilbildend für Hör- und Sehgewohnheiten.
Nach solcherlei erregendem Spaß rund um die Stilisierung weiblicher Körper, kommt Fuchs aber erst so richtig ins Schwärmen. Der Rapper Eminem, dem die gesamte Titelseite des Feuilletons (16. November) gewidmet wurde, sei der Mann, der im "stickigen Zimmer" Amerika, die "Fenster aufreißt und lüftet". Eminem, der gerne und ausgiebig mit dem Image des Bürgerschrecks spielt, wird hier als präziser und genauer Chronist der Gesellschaft vorgestellt, der immer das "große Ganze" im Blick habe. Seine Wut treffe mal Schwule, Schwarze oder Frauen, erklärte Fuchs. Wow, was für ein Kämpfer gegen political correctness. Zielsicher den Unterpriviligierten in den Magen treten - das ist echt kritisch. Es ist verblüffend einfach geworden, den bad guy als kritisches Phänomen zu zelebrieren. Wird da tatsächlich ein Zimmer gelüftet? Oder kotzt da einfach einer seine Gefühle aus und macht sich kalt und hart für den Überlebenskampf in der Gesellschaf? Im Grunde wird hier die Kehrseite der coolen Stilisierung sichtbar. Poschardt beschreibt sie als Erkaltung der Seele.
Autor Fuchs will also nicht länger Odysseus sein, wie ihn Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung als Figur einführten. Dem Gesang der Sirenen zu widerstehen, gilt heute nicht mehr als erstrebenswert. Ganz im Gegenteil verspricht man sich gerade von ihm den Trost, an dem Fuchs uns nur zu gerne teilhaben lassen will. Er zieht uns die Stöpsel aus den Ohren und öffnet uns damit die Augen. "Kohl, der 11. September und Stefan Raab - ohne Pop wäre das alles im Kopf nicht auszuhalten gewesen." Fehlt nur noch ein Blick in den Ausschnitt von Pamela Andersen. Auch ihre Brustwarzen, wer hätte das gedacht, schimmerten unter dem transparenten Kleid.
Dieser Text und seine Gewichtung als Aufmacher erscheint exemplarisch für einen sich seit Jahren verstärkenden Trend in den Feuilletons der Republik. Immer öfter wird Themen hinterhergejagt, die ohnehin schon in allen Medien präsent sind. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Fall Dieter Bohlen. Seiner Biografie Nichts als die Wahrheit wurde in den Feuilletons der noch fehlende Heiligenschein aufgesetzt. Da wurden Vergleiche zu Sophokles Tragödien und Oscar Wilde gezogen. Da war von Subjektphilosophie die Rede und davon, dass aus dem Buch viel zu lernen sei. Reich-Ranicki müsse sich einen neuen Namen merken, forderte Bohlen daraufhin in seinem Hausblatt mit den großen Buchstaben. Ob wohl irgendeiner der Rezensenten bemerkt, welche Rolle er oder sie hier spielt? Noch deutlicher nimmt der Heyne Verlag, der den Bestseller vermarktet, die Funktion der Feuilletons ins Visier. "Endlich lesen, was die Bild-Zeitung immer verschwiegen hat", lautet der Slogan auf der Website. Klar, damit sollen Leser gelockt werden. Doch der Slogan ist zugleich eine Metapher für das wundersame Wirken der Literaturkritiker. Und als Dank für all die vielen Würdigungen spendierte Heyne gerne ganzseitige Anzeigen - natürlich platziert in den Feuilletons. Dort kann ein jeder Schwarz auf Weiß nachlesen, welch erlesene Blätter Dieter Bohlens literarischen Trash zu adeln wussten.
Die Frage nach dem Warum führt zurück zu Adorno. Er galt lange Zeit als verlässlicher Gewährsmann für die Unterscheidung von Kunst und Kommerz. Doch gerade die Einebnung der Differenz wird seit den neunziger Jahren in den Feuilletons zunehmend als Befreiung gefeiert, was sich exemplarisch am Schreiben über Kino aufzeigen lässt. Nach Jahren der gestrengen Herrschaft durften die Kritiker ihr ideologiekritisches Über-Ich abstreifen. Es sei wunderbar, einen Streifen wie Independence Day von Roland Emmerich endlich toll finden zu können, erklärte etwa die Kritikerin Miriam Lau 1996 auf einer Tagung zu Perspektiven der Filmkritik im Bremer Kino 46. Diese Loslösung aus den Fesseln der Ideologiekritik war einerseits ein wichtiger Schritt, um das Hollywood-Kino neu und anders in den Blick nehmen zu können. Andererseits hat sich damit aber auch der Fokus der Aufmerksamkeit völlig verschoben. So werden beliebige Filme aus der Traumfabrik in Kritiken zunehmend aufgeblasen - Verrisse sind auffallend selten geworden.
Kleine, randständige Filme haben seit diesem Einschnitt einen immer schwereren Stand. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Länge der Kritiken nach der Höhe des Budgets bemessen wird. Je teurer ein Film, desto mehr Gewicht wird ihm eingeräumt. Die teuersten halten die Titelseiten der Feuilletons besetzt. Ein Privileg, das Regisseuren wie Abbas Kiarostami, Jacques Rivette oder Alexander Sokurov nicht mehr gewährt wird. Dabei sind es gerade ihre Filme, die den Zuschauern neue und womöglich verstörende Sichtweisen und Erfahrungen ermöglichen. Es sollte eine der vornehmsten Aufgaben des Feuilletons sein, Leser in einen in diesem Sinne genauen Film zu locken. Einen Film, den sie sich sonst nicht ansehen würden, da ihnen die Namen von Regisseur und Schauspielern nichts sagen. "Die einzige Rechtfertigung der Kunst ist zu versuchen, sich selbst, der man etwas macht, und die Leute, die es sehen, etwas weniger blind, etwas weniger taub, etwas weniger dumm zu machen." Das Credo Rivettes sollte auch für das Schreiben über Kunst gelten.
Großer Ruhm lässt sich damit allerdings nicht ernten. Weshalb viele Autoren es vorziehen, endlich einmal über Dinge zu schreiben, die in aller Munde sind. Auch wenn es nur heiße Luft ist, die rund um einen literarischen Popanz wie Dieter Bohlen aufsteigt: Dabei sein ist alles. Oder in den Worten des hellsichtigen Adorno: Der "sekundäre Genuss von Prestige, Mit-dabei-Sein" ersetze die genaue Beobachtung. So verkommt ästhetische Reflexion zur Parodie.
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