Zeitgeschichte Vor hundert Jahren hat die damalige deutsche Regierung „Terrorismus exportiert“, wie man heute dazu sagen würde. Davon betroffen war auch die New Yorker Freiheitsstatue
Durch deutsche Agenten zerstörter Güterzug 1916 in New Jersey
Foto: United Archives/imago
In Europa kämpfen und sterben zu jener Zeit junge Männer auf den Schlachtfeldern von Verdun und an der Somme, im Atlantik, dem Schauplatz eines uneingeschränkten U-Boot-Krieges, oder im Osten Europas in den Prypjatsümpfen. In den USA wollen kaiserliche Diplomaten und Geheimdienstler Waffenlieferungen an die verfeindeten Mächte Großbritannien und Frankreich stoppen. Im Auftrag Deutschlands versenken Agenten Transportschiffe oder betreiben Sabotage in Rüstungsfabriken.
So macht die New York Times (NYT) vom 31. Juli 1916 mit der fetten Schlagzeile auf: Munitionsexplosion! Schwere Schäden in Manhattan und Brooklyn – Freiheitsstatue getroffen. Im Umkreis von 150 Kilometern um New York City hätten Millionen Menschen in der Nacht zuvor eine gewalt
der Nacht zuvor eine gewaltige Erschütterung gespürt. „Ground Zero“ sei die Black Tom-Insel im Hafen von New York gewesen. Ein mit Sprengstoff beladener Frachtkahn habe das Desaster ausgelöst. Black-Tom ist 1916 ein Umschlagplatz für Munition und Kriegsgerät.Die USA sind zwar offiziell noch neutral im europäischen Krieg, doch an den Kais von Black Tom legen Frachtschiffe an, stehen außerdem Eisenbahnwaggons mit TNT und anderem Sprengmaterial, bestimmt für Briten und Franzosen, ein Riesengeschäft für die Rüstungsindustrie. Auch auf dem Frachtkahn Johnson Barge Nr. 17 lagern Ende Juli 1916 viele Tonnen TNT, wie die Ermittlungsbehörde FBI später mitteilen wird. Alles fliegt in die Luft. Die Detonation ist so stark, dass Lagerhäuser dem Erdboden gleichgemacht werden. Auf die in der Nähe liegende Einwanderungsstation Ellis Island seien „die Schrapnells wie Hagel gefallen. Granaten barsten in alle Himmelsrichtungen“, so die NYT. 353 auf der Insel internierte „Aliens, darunter Österreicher, Deutsche, Ungarn, Hebräer, Griechen, Italiener und Syrer“, seien unter Polizeibewachung aufs Festland gebracht worden. Eisenteile hätten sich in die Freiheitsstatue gebohrt. Im Umfeld des Monuments „lagen Fragmente von Blechzylindern, Schrapnells und Holztrümmer jeglicher Form“, ist die NYT alarmiert. Verdächtigt werden anfangs Hafenarbeiter, die wohl fahrlässig umgegangen seien mit einem Rauchtopf gegen Moskitos. Auch hätten Transport- und Lagerfirmen das explosive Material unsachgemäß deponiert und Sicherheitsvorschriften missachtet.Die Wirklichkeit erzählt eine andere Geschichte. Heute erinnert eine Gedenktafel im Liberty State Park am New Yorker Hafenbezirk, in Rufweite der Freiheitsstatue, an die damaligen Geschehnisse. Es heißt dort, der Parkbesucher befinde sich „an einem Ort, der eine der schlimmsten Taten des Terrorismus in der amerikanischen Geschichte gesehen hat“. Polizeiermittlungen deuten noch 1916 darauf hin, dass es sich weder um einen Unfall noch um Fahrlässigkeit gehandelt hat. Details dazu lassen sich in historischen Standardwerken nachlesen, so im erst jüngst erschienenen Buch Dark Invasion 1915 von Howard Blum oder in einem Aufsatz auf der Webseite der Central Intelligence Agency. Grundtenor: Die deutsche Regierung sei empört gewesen über die amerikanischen Rüstungsverkäufe an Feinde des Kaiserreiches und darüber, dass sich die US-Administration geweigert habe, diesen Transfer zu unterbinden. So habe Berlin den deutschen Militärattaché in Washington angewiesen, Sabotageakte einzuleiten. Jener Attaché heißt Franz von Papen. 16 Jahre später wird er Reichskanzler und nach dem 30. Januar 1933 Vizekanzler Adolf Hitlers sein.Zu Beginn sei das Unternehmen nicht besonders gut gelaufen, schreibt Blum in seinem Buch. Dann aber tritt Anfang 2015 der umtriebige Geheimdienstler Franz von Rintelen in Aktion und professionalisiert die Operation, indem er Sabotageteams organisiert. Potenzielle Rekruten gibt es genug, darunter Matrosen der deutschen Handelsschiffe, die seit Kriegsbeginn in New York und New Jersey vor Anker liegen und nicht mehr in ihre Heimathäfen zurück dürfen. Die deutschen Agenten betreiben in New York gar ein Bordell, um die Rekrutierungsarbeit zu forcieren.Nach dem Buch Sabotage at Black Tom von Jules Witcover kommt es zu etwa 200 Anschlägen, teilweise ausgeführt mit raffinierten „Zigarrenbomben“, die auf Frachtschiffen versteckt werden und erst auf hoher See zünden. Der Demokrat Woodrow Wilson, der 1916 seine Wiederwahl als US-Präsident mit dem Slogan „Er hat uns aus dem Krieg herausgehalten“ zu sichern weiß, hat lange offiziellen deutschen Unschuldsbeteuerungen geglaubt, obwohl das Gegenteil längst bewiesen war. Als besonders aufschlussreich und peinlich aus deutscher Sicht gilt die „vergessene Brieftasche“. Der Diplomat Heinrich Albert, zuständig für die Finanzierung der Sabotageaktionen, hat im Juli 1915 seine Brieftasche in der New Yorker U-Bahn verloren, ein ihn beschattender Sicherheitsbeamter passt auf und nimmt das Lederetui an sich. Es enthält einschlägige Informationen über die deutschen Pläne in den USA. Regierungsbeamte in Washington, die einen offiziellen diplomatischen Konflikt vermeiden wollen, spielen die Papiere einer New Yorker Zeitung zur Veröffentlichung zu.Es dauert bis zum April 1917. Erst jetzt erklärt Präsident Wilson Deutschland den Krieg, das daraufhin seine Diplomaten nach Berlin zurückbeordert, während sich mehrere Saboteure nach Mexiko absetzen. Die US-Sicherheitskräfte sind augenscheinlich überfordert. Obwohl sie nicht zuletzt dank des britischen Geheimdienstes relativ viel über die deutschen Operationen wissen, können sie nur wenige Agenten festnehmen, nicht jedoch die Verantwortlichen für den Anschlag von Black Tom. Nur einer namens Lothar Witzke (er gesteht und widerruft) wird 1918 als Spion zum Tode verurteilt, aber 1923 auf „Bitten aus Berlin hin“, so Witcover, freigelassen. Eine deutsch-amerikanische Untersuchungskommission, in der zuletzt keine Deutschen mehr sitzen, urteilt 1939, Deutschland müsse 50 Millionen Dollar Wiedergutmachung zahlen. Da es dazu im Zweiten Weltkrieg nicht kommt, wird die letzte Zahlung erst 1978 geleistet.Nach dem Kriegseintritt 1917 werden in den USA umso resoluter die Weichen zum Sicherheitsstaat gestellt und die Etats der noch jungen Behörde FBI aufgestockt. 1917 verabschiedet der Kongress ein neues Spionagegesetz, wie es noch heute gegen Edward Snowden Anwendung findet, den abtrünnigen Ex-Mitarbeiter des Geheimdienstes NSA.Die beim Black-Tom-Anschlag ramponierte Freiheitsstatue feiert in diesen Tagen ihren 130. Geburtstag. Das Monument, vom Sockelfundament bis zur Fackelspitze 93 Meter hoch, wurde am 28. Oktober 1886 im Beisein von Präsident Grover Cleveland eröffnet, der in seiner Rede versicherte, Amerika werde „nie vergessen, dass die Freiheit in den USA zu Hause ist“. Die Statue hält in einer Hand eine Fackel, in der anderen eine Tafel mit dem Datum der Unabhängigkeitserklärung. Zu ihren Füßen liegen zerbrochene Ketten. „Gebt mir eure Erschöpften, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren“, steht auf dem Sockel.Rund vier Millionen Menschen besuchen derzeit im Jahr die Statue. Durch das Stahlgerippe im Inneren können Besucher bis zur Krone hochklettern. Menschen mit Herzbeschwerden und Klaustrophobie sollten den Aufstieg nicht riskieren, empfiehlt die verwaltende Behörde, der National Park Service. In den Jahren unmittelbar nach der Eröffnung gab es sogar einen Weg hoch zur Fackel. Heute nicht mehr. Bei der Black-Tom-Explosion wurde die Fackel schwer beschädigt und hinterher nie wieder so instand gesetzt, dass Besucher sie besteigen dürfen.Überraschend beim Anschlag vor 100 Jahren war der Umstand, dass nie bekannt wurde, wie viele Menschen dabei ums Leben gekommen sind. Vermutlich waren es aber nur wenige. Die Insel Black Tom war fast menschenleer zur Tatzeit. Die New York Times nannte nur ein Opfer beim Namen, ein kleines Baby: Arthur Tosson, zweieinhalb Monate alt, „aus seinem Bett geworfen von der Explosion und durch den Schock gestorben“.
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