1946: Britischer Superhit

Zeitgeschichte Eine Rede von Winston Churchill in den USA wird zur geistigen Kriegserklärung an die eben noch verbündete Sowjetunion. Erstmals fällt der Begriff „Eiserner Vorhang“
Ausgabe 08/2016
Premier Churchill und Präsident Truman auf dem Weg nach Fulton
Premier Churchill und Präsident Truman auf dem Weg nach Fulton

Foto: Fox Photos/Getty Images

Im Sonderzug aus Washington herrschte beste Stimmung an diesem 4. März 1946. US-Präsident Harry Truman sei guter Laune gewesen, hielt dessen Biograf David McCullough fest. Der frühere britische Premier Winston Churchill (Mai 1940 bis Juli 1945 im Amt) habe bereits vor dem Abendessen fünf Gläser Scotch gekippt. Bis lange nach Mitternacht wurde Poker gespielt. Die Reisegruppe, darunter ein paar Dutzend Journalisten und Mitarbeiter des Weißen Hauses, war unterwegs in das gut 7.000 Einwohner zählende Fulton in Trumans Heimatstaat Missouri, ein Städtchen weit entfernt von den Zentren der Macht.

Fulton war Inbegriff des Bodenständigen, hier lebten die „richtigen Amerikaner“, wie die einstweilige Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin heute sagen würde. Truman hatte Churchill eingeladen, in Fultons Westminster College eine Rede über die Weltlage zu halten. Man hatte eine Turnhalle in der Anstalt festlich geschmückt. Hinter dem Rednerpult stand ein überdimensionales Blumengebinde. Der Zigarre rauchende Churchill fuhr mit Truman in offener Limousine und mit breitkrempigem Hut vor, der damals modische Pflicht war. Ortsbewohner jubelten; an so viel Hochrangiges war man nicht gewöhnt. „Sinews of Peace“ (Sehnen des Friedens), so das Motto der Ansprache. Churchill hatte seinen Job als Premier kurz nach dem Kriegsende in Europa durch eine Wahlniederlage verloren. Truman, aufbauend auf einer Karriere als Senator und Vizepräsident, war im April 1945 nach dem Tod von Franklin Delano Roosevelt US-Präsident geworden.

Trotz des nicht eben griffigen Titels wurde die Rede am 5. März ein historischer Superhit. „Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein ‚Eiserner Vorhang‘ über den Kontinent heruntergekommen“, dozierte Winston Churchill. „Hinter jener Linie liegen alle Hauptstädte der alten Staaten Zentral- und Osteuropas, Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. Alle jene berühmten Städte und die Bevölkerungen in ihrer Nähe liegen in der Sowjetsphäre, und alle sind sie in dieser oder jener Form nicht nur dem sowjetischen Einfluss ausgesetzt, sondern auch in sehr hohem, in vielen Fällen in zunehmendem Maße der Moskauer Kontrolle unterworfen.“ In zahlreichen Ländern gebe es zudem „kommunistische fünfte Kolonnen, die in absolutem Gehorsam ... Weisungen aus der kommunistischen Zentrale empfangen“.

Das National Churchill Museum in Fulton feiert heute diesen Auftritt als „Wachruf“. Die Sowjetunion, der Verbündete aus dem Krieg gegen Nazi-Deutschland und das imperiale Japan, habe man in die Schranken weisen müssen. Die Sowjets wollten eine „unbegrenzte Ausdehnung ihrer Macht und Doktrin“, warnte Churchill und blickte zurück auf die 30er Jahre: Damals hätte man es bei rechtzeitigem Handeln noch in der Hand gehabt, „ohne einen einzigen Schuss abzufeuern“, Deutschland und die Menschheit vor den Schrecken der Nazis zu schützen. Gegen die sowjetische Gefahr brauche die Welt einen „brüderlichen Verband der englischsprachigen Völker“. Die angestrebte Sonderrolle der Briten und der anderen „Englischsprachigen“ entstammte Churchills Weltbild. Den habe die Überzeugung beseelt, dass die Briten eine überlegene Rasse seien, deren Weisheit in der ganzen Welt gebraucht würde, erläuterte der britische Historiker Richard Toye in seinem Buch Churchill’s Empire. Der Ex-Premier habe die USA zur Hilfe für das erschöpfte britische Imperium anregen wollen, das er zu seinen Lebzeiten aufsteigen und fallen sah.

„Ideologische Kriegserklärung gegen Russland“

Doch kam Churchills Auftritt in den Vereinigten Staaten zunächst überhaupt nicht an. Man solle nicht auf den „großen, doch blinden Aristokraten“ hören, warnte die Zeitung Chicago Sun-Times, die Stimmung sei nicht danach. Churchills Ideen führten in Richtung Krieg. Das viel gelesene Blatt PM verurteilte die „ideologische Kriegserklärung gegen Russland“. Das Wall Street Journal sprach sich gegen neue Bündnisse aus. Die Menschen in den USA verspürten kein Verlangen nach einem neuen Konflikt. 1946 kehrten die Soldaten heim aus Europa und vom Pazifik. Die Atombomben, so glaubten viele damals, hätten vor entsetzlichen Verlusten in Japan bewahrt. Man wollte wieder ein normales Leben, Geld verdienen und ausgeben für die während des Krieges kaum zugänglichen Luxusgüter. Werbung im neuen Medium Fernsehen weckte Kauflust.

Wer sich für Politik interessierte, blickte mit Optimismus auf die neuen Vereinten Nationen. Die Warnung vor Russland als Feind fand nicht von heute auf morgen Widerhall. Die Begegnung sowjetischer und amerikanischer Soldaten an der Elbe lag gerade ein Jahr zurück. Von 1941 bis 1945 war der Pfeife rauchende Josef Stalin in den US-Kinowochenschauen „Onkel Joe“ gewesen, ein Verbündeter, mit dem man schon zusammenarbeiten konnte. Hollywood-Studios produzierten mit Hilfe des US-Büros für Kriegsinformation eine Reihe ausgesprochen positiver Filme über die Sowjetunion, darunter Warner Brothers’ ins Peinliche driftende Mission to Moscow. Ein Film, der selbst bei der Darstellung der Moskauer Schauprozesse zwischen 1936 und 1938 voll auf der offiziellen Sowjetlinie lag, wonach es sich bei den Angeklagten um vom Ausland gesteuerte Verschwörer handelte.

Vom „Eisernen Vorhang“ zur „Truman Doktrin“

Präsident Truman sei fassungslos gewesen angesichts der Kritik an Churchills Ansprache, schreibt Biograf McCullough. Er hatte Churchill doch eingeladen, während der Rede Beifall geklatscht und bei der Begrüßung im Westminster College gesagt, „ich weiß, er wird etwas Konstruktives zu sagen haben“. Bei der anschließenden Verleihung der Ehrendoktorwürde für Churchill sei Truman freilich nicht auf die Anregung vom „brüderlichen Verband“ eingegangen, vermerkte die New York Times in ihrem Bericht aus Fulton. Truman sagte vielmehr: „Die Freisetzung der atomaren Energie hat uns eine Macht gegeben, die allen Menschen auf Erden Glück und Wohlbefinden bringen kann oder die Zerstörung der Zivilisation.“ Wieder zurück in Washington versicherte Truman, nicht sonderlich glaubhaft, er habe gar nicht gewusst, was Churchill sagen würde.

Die Rede vom „Eisernen Vorhang“ entsprach dem Denken führender Figuren der US-Sicherheitspolitik. Zwei Wochen vor der Ansprache war im US-Außenministerium das „lange Telegramm“, wie es heute heißt, des US-Botschafters in Moskau eingegangen. Darin warnte George Kennan, man habe es in der Sowjetunion mit einer „politischen Kraft zu tun, die sich fanatisch zu dem Glauben bekennt, dass es mit Amerika keinen dauernden Modus Vivendi geben könne“. Zugleich betonte der Diplomat, die UdSSR sei gemessen an der westlichen Welt „bei Weitem schwächer“. Wichtig sei für die US-Regierung erst einmal, „dass unsere Öffentlichkeit darüber aufgeklärt wird, wie die Dinge in Russland wirklich stehen“. Viele Völker, zumindest in Europa, seien ermüdet. Sie interessierten sich mehr für Sicherheit als für Freiheit. Sie suchten „Führung“. Wenn die USA dem nicht entsprächen, würden die Russen das tun.

Ein Jahr nach Fulton war der von Winston Churchill offenbar gewünschte Umschwung vollzogen. Der US-Präsident stellte ein Konzept vor, das als „Truman Doktrin“ bekannt wurde. Es müsse zur Politik Amerikas werden, so die Ansage, „freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder äußeren Druck widersetzen“. Das sich mit „unamerikanischen Aktivitäten“ beschäftigende Kongresskomitee geißelte das Werk Mission to Moscow als prosowjetische Propaganda. Jack Warner von Warner Brothers wurde vorgeladen. Es sei Krieg gewesen, und im Krieg frage man nicht genau nach, „wer der Kerl ist, der dir hilft“, erläuterte Warner. Heute aber müsse man die „ideologischen Termiten“ ausmerzen, die sich in die Gesellschaft bohrten. Die Gebrüder Warner würden gern für ein „Ungezieferbeseitigungssprojekt spenden, um Leute nach Russland zu schicken, die unser Regierungssystem nicht mögen“.

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