Es war 1951. Der Zweite Weltkrieg lag sechs Jahre zurück. Die USA waren die Weltmacht. „Make-America- Great-Again“-Anhängern gelten die 1950er als die gute alte Zeit. Doch die symbolische Weltuntergangsuhr stand seit 1949 auf drei Minuten vor zwölf. Die koreanische Halbinsel geriet in einen Kriegszustand und im US-Staat Nevada wurden unter freiem Himmel Kernwaffen getestet. Diese große Politik kommt nicht vor in Jerome David (J. D.) Salingers Roman The Catcher in the Rye (Der Fänger im Roggen), doch der 16-jährige Protagonist Holden Caulfield misstraut grundsätzlich den Erwachsenen und Autoritäten. Der erste (und einzige) Roman Salingers, eines Weltkriegsveteranen und Verfassers von Kurzgeschichten, erscheint in den USA Mitte Juli 1951, auf Deutsch vier Jahre später. Der Internatsschüler Caulfield ist angewidert von der verlogenen College-Welt und wäre gern ein Retter der Unschuldigen. Er raucht, flucht, trinkt, streunt herum, trauert im Stillen um seinen an Leukämie verstorbenen Bruder Allie und will endlich zum ersten Mal Sex haben. Und beschwert sich. Die Tochter des Internatsdirektors habe eine große Nase und sei nicht der Typ, der einen vor Verlangen in den Wahnsinn treibt.
In den USA ist Der Fänger im Roggen bis heute einer der meistverkauften Romane aller Zeiten. Im Englischunterricht gehören die 26 Kapitel von jugendlichem Aufbegehren, Unsicherheit und Suche vielerorts zum Muss, was zu anhaltend positiven Verkaufszahlen beiträgt. Salinger schrieb in der Sprache eines Teenagers. Das war revolutionär. „Brillant, witzig und sinnreich“, kommentiert das Magazin New Yorker im August 1951.
Die Geschichte konfrontiert Amerika mit dem Umstand, dass trotz des wachsenden Wohlstandes in den Nachkriegsjahren nicht alles im Lot ist. Viele Rezensenten beschäftigen sich mit Holdens Innenleben und seinen Ängsten, aber dem jungen Mann geht es auch um Status und soziale Standards; Holden hat Probleme mit seiner eigenen privilegierten Existenz. Er besucht das vermeintlich sündhaft teure Eliteinternat Pencey Prep. In derartigen „Vorbereitungsschulen“ wird der Nachwuchs der Wohlhabenden auf ein Studium eingestimmt und auf das Zurechtfinden unter seinesgleichen in gehobener Gesellschaft getrimmt. Eine „furchtbare Schule“, findet Holden. Je teurer eine solche Anstalt, desto mehr Gauner gebe es dort. Holden fallen Klassenunterschiede auf. Seine Eltern leben in Manhattan, der Vater vertritt Unternehmen als Anwalt und ist „ziemlich wohlhabend“. Am meisten habe er sich beim Anblick eines arroganten Schuldirektors aufgeregt, der Eltern aus der unteren Einkommensschicht herablassend behandelt habe, meint Holden im Roman.
Der Fänger im Roggen spielt an drei Tagen kurz vor Weihnachten. Der wenig strebsame Internatszögling Caulfield, der in vier Fächern durchgefallen ist, muss Pencey verlassen. Er will das nicht gleich seinen Eltern beichten und driftet durch New York City, weiß nicht wohin, beklagt die Bosheit der Welt, besucht seine zehnjährige Schwester Phoebe an einem Abend, als seine Eltern auf einer Party sind. Trifft sich mit Bekannten, kommt ins Gespräch mit zwei Ordensschwestern, denen er zehn Dollar schenkt, zahlt fünf Dollar für eine Prostituierte, bis der Zuhälter nochmal fünf verlangt und ihn verprügelt. Er verärgert einen Taxifahrer mit der Frage, was die Enten im Central Park im Winter tun. Weiß nicht, wohin. Die Idee abzuhauen und irgendwo als Tankwart zu arbeiten, gibt er auf.
Die letzten Seiten des Romans erwecken den Eindruck, Holden sei in eine Klinik eingewiesen worden, aus der heraus er seine ganze Geschichte erzählt. Das Ende ist kein Happy End. Das Magazin New Republic findet 1951, der Roman hinterlasse das „irritierende Gefühl“, dass Holden vielleicht doch nicht so einfühlsam und scharfsinnig sei, wie der Autor das darstellen wolle. Außerdem sei er so „vollkommen auf sich bezogen“, dass die anderen Figuren im Roman mit Ausnahme von Phoebe bei weitem nicht so authentisch wirkten wie Holden.
Auf eine Art Resümee im Buch oder weiterführende Einsichten wartet man vergebens. In einer eher abschätzigen Kritik schreibt seinerzeit das linksliberale Magazin The Nation, das Buch reflektiere, was „jeder empfindsame 16-Jährige seit Rousseau gefühlt hat“. Das Werk sei genial, doch „wenn es zu seinen Einsichten kommt, die so generell sind, dass sie nicht wirklich Einsichten sind, wird ‚Der Fänger im Roggen‘ mehr und mehr zur Fallstudie von jedermann“. Der 1919 wie der fiktive Held seines Stoffes in einem wohlhabenden Elternhaus geborene und 2010 verstorbene Salinger hatte augenscheinlich keine Lust, den Lesern die Welt zu erklären. Seine letzten Lebensjahrzehnte verbrachte er – zuweilen mit seiner Familie – abgeschieden auf dem Land im Bundesstaat New Hampshire. Interviews lehnte er fast immer ab. Reporter durften bestenfalls seinen Briefkasten fotografieren. Die Landschaft um das Salinger-Haus in Cornish, so hieß das Dorf, „war wild und bewaldet, unsere nächste Nachbarschaft eine Gruppe von sieben moosbewachsenen Grabsteinen“, schrieb Salingers Tochter Margaret 2000 in ihren Erinnerungen Dream Catcher.
Angeblich hat Salinger bis zum Lebensende geschrieben, jedoch seit Mitte der 1960er-Jahre nichts mehr veröffentlicht. In einem der ganz seltenen Interviews ließ er sich 1974 auf ein Telefongespräch mit der New York Times ein. Er schreibe jeden Tag stundenlang, sagte er da, etwas zu veröffentlichen sei freilich etwas Anderes, erläuterte der damals 55-Jährige. „Veröffentlichen ist eine entsetzliche Invasion meiner Privatsphäre. Ich schreibe gern. Ich liebe es, zu schreiben, doch ich schreibe nur für mich und meine eigene Freude.“ Fans spekulieren bis zum heutigen Tag über Salinger-Texte, die irgendwann einmal auftauchen könnten.
Der Mörder des Ex-Beatles John Lennon trug Der Fänger im Roggen bei sich. Beim Prozess, so die Washington Post 1981, habe Mark David Chapman daraus vorgelesen. Es war der Abschnitt, in dem es darum geht, Kinder vor der verlogenen Welt der Erwachsenen zu retten. Beim Ronald-Reagan-Attentäter John Hinckley fanden die Ermittler im März 1981 den Roman in dessen Hotelzimmer in Washington. Was diese literarische Vorliebe der beiden Täter bedeutet, ob sie überhaupt etwas bedeutet, weiß man nicht, die Frage fließt aber unweigerlich ein, wird über den Fänger im Roggen geschrieben.
Man könne ein ganzes Leben hinter sich bringen, den Geruch von brennendem Fleisch werde man nie mehr los, wird Salinger von seiner Tochter Margaret zitiert. Offenbar hat er Furchtbares gesehen. Kenneth Slawenski schrieb in der Biografie J. D. Salinger: A Life (erschienen 2010) über Salingers Kriegszeit. Am 6. Juni 1944 kurz nach sechs Uhr morgens sei er mit der alliierten Invasion in der Normandie, im Abschnitt Utah Beach, gelandet. Von den 3.080 Soldaten und Offizieren in seinem Regiment seien knapp einen Monat danach „nur 1.130 übriggeblieben“. Gegen Kriegsende dann habe Salingers Einheit Nebenlager des Konzentrationslagers Dachau befreit, so Slawenski. Im Juli 1945 habe er sich in ein Krankenhaus einweisen lassen. Depressionen und posttraumatische Belastungsstörung würde man heute sagen. Wieder im Zivilstatus blieb Salinger nach 1945 zunächst in Deutschland und arbeitete für den Aufklärungsdienst Army Counter Intelligence Corps. Er war in der „Einheit 970“, die nach Kriegsende mehr als 120.000 verdächtigte Nazis festnehmen ließ. 1.700 davon seien schwerer Verbrechen in den Konzentrationslagern beschuldigt worden, steht in J. D. Salinger: A Life.
Wie viele seiner Generation hat der Autor nicht vom Krieg gesprochen, nicht darüber, was er gesehen, was er getan hat, was in seinen Albträumen vorkam. Er hat das Schweigen fortgesetzt bis zum Lebensende. Über das Grauen der Lager, den Geruch von brennendem Fleisch hat er nichts publiziert. Für Antworten waren weder Salinger noch Caulfield zuständig.
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