Es geschah ein Vierteljahrhundert, bevor sich die Organisation Black Lives Matter gegen Polizeigewalt in den USA formierte. Im März 1991 enthüllten zum ersten Mal verdeckt aufgenommene Szenen, gefilmt mit einer Sony-Handycam, die Brutalität vermeintlicher Ordnungshüter, in diesem Fall von vier Polizisten in Los Angeles. Am 3. März 1991 war der damals 26-jährige Afroamerikaner Rodney King wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Polizei gestoppt worden. Er hatte mit seinem weißen Hyundai rote Ampeln überfahren, war angetrunken und wollte sich einer Festnahme widersetzen. Die auf Bewährung ausgesetzte Haftstrafe wegen eines Raubüberfalls stand auf dem Spiel. King musste damit rechnen, wieder eingesperrt zu werden, hieß es hinterher.
Die Beamten (drei Weiße, ein Latino) kannten keine Gnade, traten auf den am Boden liegenden King ein und prügelten ihn mit Schlagstöcken. Weil das ein Anwohner zufällig filmte, war ein Gerichtsverfahren unausweichlich. Es endete am 29. April 1992 mit einem Freispruch der Prügelpolizisten. Das Urteil sorgte in Los Angeles für Aufstände und ein Chaos in noch nie dagewesenem Ausmaß. Am Anfang flogen nur Getränkedosen auf Fahrzeuge, doch bereits drei bis vier Stunden nach dem Urteil tobte in der kalifornischen Metropole der Aufruhr. Aufgebrachte Menschen demonstrierten vor dem Hauptquartier der Polizei. Am Abend des 29. April brannten erste Geschäfte. Bald hingen Rauchwolken über der Stadt, die Zeitungen schrieben von einer „Orgie der Gewalt“ und „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. Sie dauerten bis zum Abend des 2. Mai. Die dramatischen Ereignisse wurden später häufig „Rodney King Riots“ genannt.
Der Kronzeuge mit der Videokamera hieß George Holliday, war 31 Jahre alt und von Beruf Klempner. Am jenem 3. März 1991 hatte er kurz nach Mitternacht Lärm und einen Hubschrauber gehört. „Ich rannte auf den Balkon meiner Wohnung, packte auf dem Weg dorthin meine Kamera und fing an zu filmen“, erzählt er später im Fernsehsender NBC. Wie alles begann, das habe er nicht mitbekommen, doch was sich in einer Entfernung von gut 50 Metern im Licht der Scheinwerfer des Polizeihelikopters abspielte, sehr wohl. Bestimmt mehr als 50-mal hätten die Beamten auf Rodney King eingeschlagen. Der habe auf der Straße gelegen, wollte mehrmals aufstehen, wurde immer wieder niedergestreckt.
Einer der Schläger, der Polizist Laurence Powell, gab hinterher an die Zentrale durch: „Es ist schon lange her, dass ich jemanden so hart geschlagen habe.“ Man habe eine Verdachtsperson „big time“ verprügelt, teilte Sergeant Stacey Koon mit, ranghöchster Beamter der vier. Er brauche neue Munition für seinen Elektroschocker. Die Wache antwortete: „Bin mir sicher, dass die Eidechse das nicht verdient hat, hahaha.“
George Holliday übergab sein Material einem örtlichen Fernsehsender. Auch CNN bekam die Aufnahmen. Zuschauer sahen: Polizisten schlagen und schlagen. Die Los Angeles Times startete eine Umfrage. 91 Prozent der Befragten sagten, die Polizei habe „übermäßige Gewalt“ angewandt. Man könne die Schläge nicht „wegerklären“, meldete sich Präsident George H. W. Bush aus dem Weißen Haus. Die Sache sei unfassbar. Am 14. März 1991 erhob Los Angeles Anklage gegen Sergeant Koon und seine Untergebenen Laurence Powell, Timothy Wind und Thedore Briseño. Deren Anwälte erreichten, dass der Prozess nicht in Los Angeles stattfand, sondern im 50 Kilometer entfernten Simi Valley, einer überwiegend weißen und stockkonservativen Enklave im multiethnischen Südkalifornien. Dort sagte Polizist Briseño gegen seine Kollegen aus. Die Sache sei „außer Kontrolle geraten“. Die anderen drei hielten zusammen. Der Einsatz sei „im Rahmen der Richtlinien verlaufen“, so Sergeant Koon. Rodney King, der nach seinem Eindruck unter dem Einfluss von Drogen stand, die zu verringertem Schmerzempfinden geführt hätten, sei gefährlich gewesen.
„Ich habe ein bisschen Angst bekommen“, sagte Koon, „weil dieser Herr oftmals geschlagen worden war mit einem Metallschlagstock, und es keine Hinweise gab, dass er nachgeben würde.“ Die Verteidiger warnten vor einer Verurteilung. Die Polizei sei schließlich „die Grenze zwischen Chaos und Gesellschaft“, äußerte sich Winds Anwalt Paul DePasquale.
Nach dem Prozess war die Polizei von Los Angeles vollkommen überfordert. Polizeichef Daryl Gates besuchte am frühen Abend des 29. April 1992 einen Empfang im Nobelviertel Brentwood. Wer den Fernseher anschaltete, konnte die Ausschreitungen sehen. Luftaufnahmen zeigten, wie mehrere Afroamerikaner einen weißen Lastwagenfahrer aus seinem Gefährt zerrten und fast totschlugen. Andere brachten den Mann in Sicherheit. Bürgermeister Tom Bradley sprach gegen 23 Uhr. Die Stadt werde „alle nötigen Ressourcen einsetzen“, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. „Wir nehmen an, dass die Situation gegenwärtig herunterkocht und so ziemlich unter Kontrolle ist.“
Bradley lag falsch. Die „Situation“ hatte gerade erst zu kochen begonnen. In den Morgenstunden des kommenden Tages wurden mehrere Gebäude und hunderte Autos in Brand gesetzt. Feuerwehren waren machtlos. Passanten plünderten Läden. Manche Eigentümer verteidigten ihren Besitz mit der Waffe. Der Historiker Mike Davis, Autor der Sozialgeschichte City of Quartz: Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, kritisierte 20 Jahre nach dem Rodney-King-Aufruhr im Los Angeles Review of Books eine „beabsichtigte Herrschaft der Ignoranz“, um von „den tiefen Ursachen der komplexen Ereignisse abzulenken“. Abgesehen vom Verweis auf die Entrüstung über den Freispruch könne wohl niemand „mit Sicherheit sagen, was passiert ist oder warum“. Los Angeles habe keinen „einheitlichen Aufstand“ erlebt, sondern „simultane Tumulte mit oft unterschiedlichen Geschichten“. Davis sprach sich aus gegen das in vielen Kommentaren praktizierte Reduzieren der Ereignisse auf einen Rassenkonflikt Schwarz gegen Weiß. Ursachen seien auch verzweifelte Armut, wie man sie im Süden Kaliforniens seit den 1930er Jahren nicht mehr erlebt habe, und klaffende soziale Unterschiede. Weihnachten 1991 hätten mehr als 20.000 Frauen und ihre Kinder bei einer Hilfsgüterverteilung „eine ganze Nacht in der Kälte gewartet, um einen kostenlosen Truthahn und eine Decke“ zu erhalten. Und dann war da die Polizei. Junge Afroamerikaner und Latinos dürften nicht überrascht gewesen sein vom Schlagstockeinsatz gegen Rodney King. Seit Jahren lief unter Polizeichef Gates die „Operation Hammer“, bei der Zehntausende junge Menschen gestoppt, durchsucht, gedemütigt und manchmal festgenommen wurden.
60 Tote waren nach dem Aufstand zu beklagen, ganze Gebäudekomplexe ausgebrannt, neben der Polizei 6.000 Nationalgardisten im Einsatz. Für Präsident Bush war die Sache klar: „Was wir in Los Angeles (…) gesehen haben, ist kein Ausdruck des Protests. Es ist die Brutalität einer Meute.“ Rodney King trat am dritten Tage der Unruhen vor die Kameras, im Anzug, weißen Hemd und mit Krawatte. Er suchte nach Worten, und sagte seinen ikonischen Satz. „Ich will nur sagen – können wir alle miteinander auskommen? Können wir miteinander auskommen?“ Er verstehe die Wut in den ersten Stunden nach Bekanntwerden des Freispruchs, doch was nun geschehe, sei „einfach nicht richtig“. Ein Gericht sprach King schließlich 3,8 Millionen Dollar an Wiedergutmachung zu. Er versuchte sein Glück mit der Gründung eines Rap-Labels.
Die Polizisten Koon und Powell wurden 1993 in einem zweiten Verfahren – es ging um die Missachtung von Kings bürgerlichen Rechten – zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt. In diesem Verfahren sagte Rodney King als Zeuge aus. Bei den Schlägen habe ein Polizist gerufen: „Was ist los, Killer? Was ist los, Nigger?“ Im Dezember 1995 wurden Koon and Powell aus der Haft entlassen. In Juni 2012 fand man King tot in einem Swimmingpool. Er war 47 Jahre alt.
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