So laut wie ein Güterzug sei der Sturm gewesen, berichten Augenzeugen. Vor zehn Jahren hat Hurrikan KatrinaNew Orleans zerstört. Die Schutzdeiche der größtenteils unter dem Meeresspiegel liegenden Stadt versagten in diesen letzten Augusttagen des Jahres 2005. Auch umliegende Gebiete in Louisiana, Mississippi und Alabama kamen schwer zu Schaden. Letzten Endes hat Katrina offenbart, welche tiefen Gräben die US-Gesellschaft durchziehen.
New Orleans galt als Inbegriff von Jazz und Mardi-Gras-Umzügen, die an südamerikanischen Karneval erinnerten. Das Leben in den Kneipen der Bourbon und Frenchmen Street war lockerer als im Rest der USA. 455.000 Menschen wohnten in der Stadt; zwei Drittel davon Afroamerikaner. Immer schon gehörten Wirbelstürme am Golf von Mexiko dazu. Meterologen sahen Katrina kommen. Der Hurrikan überquerte das südliche Florida und gewann mit dem warmen Wasser des Golfstroms neue Energie. Ein Monster, unterwegs eventuell in Richtung New Orleans, hieß es.
Am Sonntag, dem 28. August, um 11 Uhr, verordnet Bürgermeister Ray Nagin die Evakuierung der Stadt. Ein Fünftel der Bewohner besitzt kein Auto, und es gibt kaum Busse. Einen Tag später fegt Katrina am frühen Morgen mit einer Geschwindigkeit von 230 Stundenkilometern durch New Orleans. Deiche brechen. Salzwasser vom Golf, Wasser vom Mississippi und dem 1.600 Quadratkilometer großen Pontchartrain-See im Norden, dazu eine Giftbrühe aus den Industriegebieten überfluten ganze Viertel. Etwa 1.300 Menschen ertrinken in dem braunen Gemisch. Sie sei auf einer Luftmatratze weggekommen, erinnerte sich Africa Brumfield später in einem Fernsehinterview. „Überall haben Menschen um Hilfe geschrien. Die Nationalgarde und Freiwillige brachten Hunderte in Sicherheit.“ Im gesamten Katastrophengebiet kommen mehr als 1.800 Menschen ums Leben.
Nach einem Tag und einer Nacht mit tosendem Wind und schweren Regenfällen, ohne Strom und Telefon, aber mit steigendem Wasserpegel wird das Ausmaß der Verwüstung sichtbar. Etwa drei Viertel von New Orleans stehen unter Wasser. Menschen sitzen auf Dächern, winken und schreien in der Hoffnung, von Hubschraubern aus bemerkt zu werden. Wer kann, sucht Zuflucht im Superdome, dem Sportstadion, wo Tausende schon vor dem Sturm hingeflohen sind, und im städtischen Convention Center. Sie brauchen Wasser, etwas zum Essen, Medikamente. 50.000 bis 100.000 Menschen seien noch irgendwo in der Stadt, schätzt der Bürgermeister.
Apokalypse, Chaos, Kollaps der Zivilisation – zu solchen Schlagworten greifen die Medien. Vier Tage (!) nach dem Inferno hält ein Situationsbericht der Katastrophenschutzbehörde FEMA fest: Ein Konvoi der Nationalgarde habe das Convention Center erreicht „nach einer Fahrt durch das, was von New Orleans übrig blieb, durch einen Mahlstrom von Bränden und im Wasser treibenden Leichen“. Es gebe „Szenen wie aus einem Land in der Dritten Welt“, zitiert das Fernsehprogramm Frontline einen Augenzeugen. Die meisten der rund 20.000 Verzweifelten im Zentrum sind Afro-amerikaner. Manche haben ein paar Habseligkeiten in Plastikbeuteln gerettet.
Präsident George W. Bush bricht seinen Urlaub ab, doch scheint die offizielle Politik losgelöst von der Realität. Michael Chertoff, Chef des Heimatschutzministeriums, erklärt, er sei „extrem zufrieden mit der Reaktion von jedem Element der Administration“. „Mr. President, danke, danke, danke. Sie haben auf meine Bitten geantwortet“, sagt Kathleen Blanco, die Gouverneurin von Louisiana. Am Mittwoch, dem 31. August, macht George Bush einen schweren Fehler, wie er bald darauf im NBC-Fernsehen einräumt. Er inspiziert die Katastrophe von seiner Air Force One aus. Dabei hätte er sich nicht fotografieren lassen dürfen, sagt Bush, und er hätte in New Orleans haltmachen sollen. Dass Kritiker ihm angesichts seiner Distanz zu den notleidenden Menschen Rassismus vorwarfen, sei der schwerste Augenblick seiner Amtszeit gewesen.
Am 2. September fliegt Bush noch einmal in die heimgesuchte Region. Es gebe viel zu tun, um Menschen zu retten und die Ordnung wiederherzustellen, lässt er bei seiner Ankunft auf dem Regionalflughafen von Mobile in Alabama wissen. Bush verteilt Lob an Politiker und Hilfskräfte, besonders an FEMA-Chef Michael Brown. „Brownie, you’re doing a heck of a job!“ (Brownie, Sie machen einen tollen Job!), Das passiert ziemlich genau zu der Zeit, als der Hilfskonvoi am Convention Center Dritte-Welt-Zustände vorfindet. Zehn Tage später tritt Brown zurück. Zu groß bleibt der Kontrast zwischen Versicherungen und Schreckensbildern. Tausende Soldaten ziehen ein in New Orleans. Nach und nach werden Stadtbewohner weggebracht, viele nach Houston. Wer gar nichts hat, wird dort in einem weiteren Stadion unterbracht, dem Astrodome.
Die traumatisierten Evakuierten erzählen, weiße Flüchtlinge seien in Hotels eingewiesen worden. Eine schwarze Frau um die 40 schildert, wie sie und ihre im Rollstuhl sitzende Mutter tagelang ausgeharrt hätten. Helikopter hätten sie nicht mitgenommen, und ein Polizeiauto mit zwei weißen Polizisten sei an ihnen vorbeigefahren. Auch Bürgermeister Nagin spricht von Rassismus. Empörung richtet sich gegen die Inkompetenz der Behörden. Hunderte von Schulbussen seien auf einem Parkplatz überflutet worden: Sie hätten Tausende hinausbringen können. New Orleans war niemals nur Spaßort für Big-Easy-Tourismus. Ein Drittel der Einwohner galt als arm, besaß schon vor Katrina nur das Nötigste.
Zehn Jahr später versprüht Mitch Landrieu – Nagins Nachfolger als Bürgermeister – ostentativ Optimismus. Bei seiner jüngsten Ansprache zur Lage der Stadt sprach er (Nagin sitzt derzeit zehn Jahre ab wegen Korruption) von Wirtschaftswachstum, einer fallenden Kriminalitätsrate und neuen Parks. Viele junge Amerikaner seien nach New Orleans gezogen. Man spricht von Unternehmergeist, einem Silicon Valley, das in den Sümpfen entstehe. „Wir bauen nicht nur die Stadt wieder auf, die wir einmal hatten. Wir schaffen eine Stadt, wie sie immer hätte sein sollen“, betont Landrieu. Voll des Lobes ist auch die Restaurantkritikerin der New York Times. Kim Severson schreibt, in New Orleans könne man heute viel besser essen als vor Katrina. Die Küche zeige „globale Einflüsse“, und es gebe nicht mehr nur traditionelle Gerichte.
Der Katrina-Überlebende Bill Quigley, Jurist an der Loyola-Universität in New Orleans, kann sich trotz manch positiver Trends nicht sonderlich begeistern für die neue Stadt. In seinem Katrina-Schmerz-Index hält er fest: Viele der ganz Armen, besonders Familien mit Kindern, seien nie mehr zurückgekehrt. Heute lebten rund 100.000 Afroamerikaner weniger in der Stadt als zuvor. Die weiße Bevölkerung sei um gut 11.000 zurückgegangen. Einschließlich anderer ethnischer Gruppen lebten jetzt rund 384.000 Menschen in New Orleans. Die Kinderarmutsrate sei mit 39 Prozent so hoch wie vor dem Desaster.
Bei aller Planung für Landrieus Wunschstadt steht im Hintergrund die Frage: Welche Zukunft hat New Orleans im Klimawandel? Naturkatastrophe war ohnehin nicht das richtige Wort für Katrina: New Orleans war Produkt massiver überheblicher Eingriffe in eine Sumpflandschaft. Der Mississippi war begradigt und für die Schifffahrt ausgebaut worden, Sümpfe wurden trockengelegt, und die Bebauung der Golfküste hat natürliche Schutzbarrieren zerstört. Seit Katrina werden die Deiche erneut verstärkt, Pumpwerke angelegt, Feuchtgebiete und Dünen restauriert.
Präsident Barack Obama hat vor zwei Wochen einen ehrgeizigen Klimaschutzplan vorgestellt. Er will eine Energiewende. Der Gouverneur von Louisiana, Blancos Nachfolger Bobby Jindal, ist da ganz anderer Ansicht. Das Gerede von Klimawandel sei ein „trojanisches Pferd“ für neue Regierungsvorschriften. Die USA sollten am besten überhaupt nicht an den UN-Klimaverhandlungen teilnehmen. Jindal ist einer der 17 republikanischen Präsidentenbewerber.
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