Vor den Präsidentschaftswahlen wurde im linken und alternativen Spektrum viel diskutiert, ob es wirklich gewichtige Unterschiede gebe zwischen Al Gore und George W. Bush. Nach der Kontroverse über das Ergebnis in Florida fällt die Antwort leichter. Ein Kandidat will möglichst viele Stimmen zählen, der andere mauert und hat anscheinend kaum Skrupel bei der Wahl seiner Mittel.
Natürlich kämpfen Al Gore und George W. Bush trotz hochtrabender Reden zuallererst um den Wahlsieg und nicht um Treue zu amerikanischen Idealen. Natürlich findet unter den Palmen und in den Sümpfen zwischen Miami, Disney World und Tallahassee ein "Duell der Eliten" statt, die nach dem Milliarden teuren Wahlkampf ihren Mann ins Weiße Haus hieven möchten. Aber Florida ist viel mehr als ein Einschaltquoten förderndes Tauziehen zweier Berufspolitiker und mehr als eine arbeitsbeschaffende Maßnahme für Rechtsanwälte. Letztlich geht es um fundamentale Grundsätze der Demokratie - zählen alle Stimmen, und ganz besonders die Stimmen der Afro-Amerikaner, die zu 90 Prozent Gore gewählt haben?
Bush mit seinem hauchdünnen Vorsprung legt ein ausgesprochen aristokratisches "Demokratieverständnis" an den Tag. Es stört ihn anscheinend nicht, dass tausende Schwarze vom Wählen abgehalten worden sind, wie die Bürgerrechtsorganisation NAACP behauptet. Und dass vorsintflutliche Wahlgeräte in schwarzen Stimmlokalen in Miami-Dade Gore laut New York Times möglicherweise bis zu 7.000 Stimmen gekosten haben. Oder dass republikanische Parteivertreter in einem Landkreis mit Genehmigung der Wahlbehörde Formfehler bei republikanischen Briefwahlstimmen berichtigt haben. Demokraten durften angeblich nicht korrigieren. Das hat Bush wohl mehrere tausend Stimmen gebracht.
Der Kronprinz aus Texas hat sich auch nicht vom republikanischen Krawall gegen die aus demokratischer Sicht vielversprechende Handnachzählung in Miami-Dade aus der Ruhe bringen lassen. Als die dortige Wahlbehörde am 22. November über die Handnachzählungen beriet, stürmten republikanische Aktivisten - viele davon Parteiangestellte und Mitarbeiter der Bush-Wahlkampagne - das Regierungsgebäude und forderten einen Stopp der Zählungen. Kommentar eines Augenzeugen im Wall Street Journal: "Wenn es so etwas gibt wie einen bürgerlichen Aufstand, dann ist das hier passiert. Und er könnte Bushs Präsidentschaft gerettet haben." Die Zählungen wurden gestoppt. Auch exilkubanische Radiosender hatten zum Protest aufgerufen. In Miami weiß der Politiker, dass mit den Elian-geschädigten Exilantenboys nicht zu spaßen ist.
Es bleibt wenig übrig von Bushs Versicherungen im Wahlkampf, er werde in Washington "Gegensätze überbrücken" und Kontrahenten versöhnen. Nach einer Untersuchung der Tageszeitung Miami Herald, sicher kein linkes Blatt, hätte Gore in Florida mit etwa 23.000 Stimmen Vorsprung gewonnen, wenn die Wahlzählgeräte richtig funktioniert, nicht zu viele Stimmen verworfen und irreführende Stimmzettel nicht zur Disqualifikation geführt hätten. Eine solche Analyse des Wählerwillens ("statistisches Voodoo", spotten die Bush-Leute) zählt vor Gericht natürlich nicht: Sie erklärt aber, warum Bush alles dran gesetzt hat, die präzisere Handnachzählung der Stimmen zu verlangsamen oder ganz zu beenden.
Die Herald-Studie befasst sich noch gar nicht mit der offenbar weit verbreiteten Diskriminierung afro-amerikanischer Wähler. Bei Anhörungen des Bürgerrechtsverbandes National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) haben schwarze Wähler Schauergeschichten erzählt, die an Vorkommnisse im rassistischen Süden vor Jahrzehnten erinnern. Sie seien in Wahllokalen aufgefordert worden, Ausweis und Stimmkarte vorzuzeigen, obwohl das Gesetz nur eines vorschreibt. Wahlaufseher hätten schwarze - nicht aber weiße - Bürger oft öffentlich über ihre Vergangenheit ausgefragt, etwa ob sie schon einmal verhaftet worden seien. Und viele Afro-Amerikaner stellten am Wahltag fest, dass ihre Namen auf der Liste registrierter Wähler fehlten. Zahlreiche Kreolisch sprechende, aus Haiti stammende Bürger mussten außerdem ohne Dolmetscherhilfe auskommen, auch wenn Kreolisch sprechende Freiwillige aushelfen wollten.
Der Rat der schwarzen Kongressabgeordneten appellierte an US-Justizministerin Janet Reno, dass es "gewichtige Hinweise" auf die Diskriminierung Schwarzer gebe. Reno hat sich noch nicht geäußert. Und große Hoffnung haben die Abgeordneten nicht. Wenn der Schiedsrichter abgepfiffen hat, ist es schwer, das Ergebnis zu verändern, auch wenn der Ball beim Siegestor (Deutschland - England, 1966) die Torlinie nicht wirklich überschritten hat. Abgepfiffen hat in Florida die Bush-Wahlkampf-Mitarbeiterin Katherine Harris in ihrer Eigenschaft als Innenministerin des Bundesstaates. Auch die Gerichte sind vorsichtig: Nach Ansicht eines Bezirksrichters hat Gore nicht nachgewiesen, dass er wegen der Unregelmäßigkeiten verloren habe. Das Oberste US-Gericht hat die ganze Handnachzählung in Frage gestellt.
Bei den Demokraten melden sich mehr und mehr Realpolitiker zu Wort, Gore möge doch kein schlechter Verlierer sein. Dass man in Florida "Faschismus erahnen" könne, wie der Kongressabgeordnete Jarrold Nadler sagte - dieser Gedanke passt nicht ins Konzept. Doch was auch immer passiert und passiert ist in Florida: Gore kann sein Abschneiden nicht mit Bushs Manövern und der Zaghaftigkeit der Gerichte erklären. Wenn er nur einen besseren Wahlkampf geführt und Bush frühzeitiger angegriffen hätte, wenn er den Wählern nur eine wirklich alternative Zukunft in Aussicht gestellt hätte ..., dann wären die in Florida verloren gegangenen 23.000 Stimmen gar nicht mehr wichtig. Aber "wenn" nützt jetzt nichts mehr.
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