Jetzt wird's ernst im amerikanischen Wahlkampf. Nach den jüngsten Umfragen (was auch immer die am Wahltag Wert sein mögen) könnte der Ökokandidat Ralph Nader dem Demokraten Al Gore am 7. November so viele Stimmen »abnehmen«, dass George W. Bush Präsident wird. Ein Alptraum im Weißen Haus. Oder doch eher ein längst fälliger Denkzettel für die Demokraten der sogenannten Neuen Mitte?
Gore schickt jetzt eine Flotille ihm freundlich gesonnener linksliberaler, schwuler, feministischer, gewerkschaftlicher, afro-amerikanischer und umweltaktiver Promis nach Oregon, Washington und in andere, auf der Kippe stehende Bundesstaaten: Eine Stimme für Nader sei eine Stimme für Bush. Ausgerückt als Hiobsboten sind unter anderem Gloria Steiner und Jesse Jackson, Jr. Ein ganz ungewohntes Gefühl für die Linken, Grünen und Anti-Globalisierungskämpfer, plötzlich hofiert zu werden von der Demokratischen Partei, die ihre Wahlversprechen sonst auf die »wahrscheinlichen Wähler« der politischen Mitte zuschneidert. Die Republikaner lachen sich ins Fäustchen und zahlen an der Westküste für Fernsehwerbespots, in denen Nader Gores Umweltpolitik aufs Korn nimmt.
Stimmen für »saubere Politik«
Gores Sorgen sind berechtigt. Nader hat Buschfeuer entfacht. 15.000 bei Nader im Madison Square Garden in New York, 10.000 in Portland (Oregon), Tausende an Unis im ganzen Land. Viele linke Demokraten und Nichtwähler fühlen sich nach Jahrzehnten der »kleineren Übel« Carter, Mondale, Dukakis und Clinton angesprochen, wenn der Rufer in der kapitalistischen Wüste verkündet: »Wer immer nur das kleinere Übel wählt, den Kandidaten, den er eigentlich nicht will, bekommt nie einen Präsidenten, den er will.« Und weiter: »Eine Stimme für Nader ist eine Stimme für fortschrittliche und saubere Politik. Eine Stimme gegen die Wehrlosigkeit.« Reform der Wahlfinanzierungsgesetze, mehr Demokratie, gegen die Macht der Konzerne.
Aber leicht fällt die Wahlentscheidung nicht. Ob die versprengte Linke sich jetzt wirklich von den Demokraten lossagen soll? Entscheidend ist wohl, wie man Gore und George Bush vergleicht. Sind beide letztlich doch nur »Gefangene« der Industrie und Wirtschaft? Oder würde Bush das Oberste Gericht mit rechtsextremen Juristen besetzen, die Steuergesetze radikal zugunsten der Millionäre umschreiben, Abtreibung verbieten lassen, und die Bürgerrechts- und Umweltgesetze untergraben, wie Gores linke Freunde jetzt alarmieren? Der Sozialdemokrat Norman Birnbaum, Randall Robinson von Transafrica, die Autorin Barbara Ehrenreich, die Umweltaktivistin Lois Gibbs, Michael Lerner von Tikkun und eine lange Liste linker Prominenter haben sich für Nader entschieden.
Sie stimme nur mit Bedauern gegen Gore, erläutert Ehrenreich. Die Partei vertrete die Einkommensschwachen und die links vom Zentrum nicht mehr. Besonders empört sei sie über Clinton/Gores »Sozialhilfereform«, die Hunderttausenden alleinerziehenden Frauen die Unterstützung entzogen habe. Es sei gar nicht so klar, dass es den Armen besser gehen würde unter Gore als unter Bush. Nader auch als Mittel, die amerikanische Demokratie zu beleben. Die Hälfte der Amerikaner geht nicht zur Wahl, und der Rest hat trotz der drei Fernsehdebatten Probleme, die substantiellen Unterschiede zwischen Bush und Gore auszuloten.
Frontal gegen die »Plutokratie«
Das linksliberale Hausorgan, The Nation, hat aber eindringlich zur Stimmabgabe für Gore aufgerufen. Bush sei zu gefährlich. Konstruktive Politik müsse in den USA gegenwärtig mit und in der Demokratischen Partei gemacht werden. Die nationalen Bürgerrechtsverbände sind auch für den Demokraten. Ganz besonders aber ist Gore jetzt auf die Gewerkschaften angewiesen. Der nationale Gewerkschaftsverband lässt Naders These nicht gelten, dass er und Gore fast identisch seien. AFL-CIO Präsident John Sweeney rechnet vor, dass Bushs Steuergesetze fast ausschließlich den Reichen zu gute kommen und seine Rentenreform die staatliche Rentenversicherung zerschlagen würde.
Nader und seine Kampagne geben widersprüchliche Antworten, wie es wäre, wenn Nader die erwarteten fünf Prozent bekommt und Gore knapp verliert. Zumindest in den »eindeutigen« republikanischen und den eindeutig demokratischen Staaten könne man ruhig für Nader stimmen, ohne Gore zu schaden, sagte ein Stratege der Nader-Kampagne. Andererseits wird behauptet, dass die meisten Nader-Wählerinnen und -Wähler ohnehin nicht für Gore gestimmt hätten. Nader selber weicht nicht ab von seiner harten Linie: Es gebe keine tiefgreifenden Unterschiede zwischen den beiden Kandidaten der »Plutokratie«. Die Wähler sollten für Nader und seine Vizepräsidentschaftskandidatin Winona LaDuke stimmen. Man müsse eine neue Bewegung aufbauen.
Manchmal kämpft Nader mehr gegen Gore als gegen Bush. So konterte Nader Warnungen führender Umweltverbände vor Bushs ökologischem Kahlschlag: Die Umweltbedrohung komme nicht hauptsächlich von Bush. Dessen »archaische Politik« der brutalen Missachtung der Umwelt werde inzwischen von der klaren Mehrheit der Amerikaner abgelehnt, und auch von vielen Unternehmern. Gore sei viel gefährlicher. Der demokratische Kandidat gehöre einer »Allianz zwischen multinationalen Konzernen« und Politikern an, die es gelernt hätten, »grün« zu sprechen und Umweltschützer zu »manipulieren« - ohne wirklich etwas zu verändern. Schließlich sei Gore federführend gewesen bei der Verwässerung des Klimagipfel-Protokolls von Kyoto.
Gores Wahlrhetorik hat bis vor kurzem nicht viel getan, den »linken« Flügel bei der Stange zu halten. Da streitet Gore mit Bush, wer denn nun mehr Stellen im öffentlichen Dienst streichen und das Militär kräftiger stärken würde. Gore hat es lange versäumt, Bushs horrende Umweltpolitik in Texas zu attackieren, kein Wort von ihm zu Bushs Hinrichtungsrekord. Bush seinerseits führt eine kluge Reaganeske und anti-intellektuelle Kampagne gegen »die Politiker« in Washington, die ihre Koffer packen sollten. Nader dazu: Wenn Gore verliert, ist er selber schuld. Gegen einen so inkompetenten Politiker wie Bush müsste ein Mann wie Gore gewinnen.
Am 7. November wählen die Amerikaner nicht nur den neuen Präsidenten, sondern auch ein neues Repräsentantenhaus und einen neuen Senat. Da könnte Nader den Demokraten helfen, wenn er neue Wähler an die Urnen bringt, die dann auch für demokratische Abgeordnete und Senatoren stimmen würden. Im Repräsentantenhaus haben die Republikaner nur einen knappen Vorsprung. Ein Machtwechsel dort ist möglich und realpolitisch beinahe so wichtig wie die Präsidentenwahl. Ob Naders Leute aber wirklich für ihn stimmen, wenn nach Umfragen am Wahltag Bush zwei oder drei Prozent vorne liegt?
Präsident
Der amerikanische Präsident wird nicht direkt vom Volk gewählt, sondern indirekt durch 538 Wahlmänner. Die Anzahl dieser Wahlmänner in jedem Staat entspricht der Anzahl der Abgeordneten in beiden Häusern des Kongresses und richtet sich damit nach Bevölkerungszahl des jeweiligen Staates. Die Wahlmänner werden vor der Wahl auf den Nominierungsparteitagen der jeweiligen Partei gekürt. In vielen Staaten erscheinen ihre Namen jedoch nicht mehr auf den Wahlzetteln. Die Entscheidung fällt zwischen den tatsächlichen Präsidentschaftskandidaten. Die Wahlmänner einer Partei in einem Bundesstaat bilden eine Liste (slate of electors). In allen Staaten (Ausnahme: Maine) erhält die Mehrheitspartei sämtliche Stimmen der auf ihrer Liste enthaltenen Wahlmänner. Beim Wahlgang der Wahlmänner genügt den Präsidentschaftskandidaten eine einfache Mehrheit von 270 Stimmen, um Präsident zu werden. Die Stimmenauszählung erfolgt auf einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses im Januar. Am 20. Januar übernimmt der neue Präsident sein Amt.
Repräsentantenhaus
Die 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses werden nach dem relativen Mehrheitswahlrecht (Ausnahme: Georgia) in Einzelwahlkreisen direkt vom Volk gewählt. Jeder Bundesstaat entsendet Abgeordnete proportional zur Einwohnerzahl, mindestens jedoch einen. Gewählt ist, wer die relative Stimmenmehrheit erlangt. Die Abgeordneten müssen das 25. Lebensjahr erreicht haben und mindestens seit sieben Jahren amerikanischer Staatsbürger sein.
Senat
Die 100 Senatoren werden nach relativem Mehrheitswahlrecht direkt für sechs Jahre gewählt. Jeder Staat hat, unabhängig von Größe und Bevölkerungszahl, zwei Sitze im Senat. Der Senat wird nicht komplett neu gewählt, sondern zeitversetzt alle zwei Jahre zu einem Drittel. Das sichert, anders als im Repräsentantenhaus, eine höhere Kontinuität der politischen Arbeit.
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