Alleskleber für eine brüchige Supermacht

USA Beim 9/11-Gedenken wurde eine einzigartige Gemeinschaft beschworen. Die Opfer der Wirtschaftskrise spüren davon im Augenblick nicht viel

Die mediale Orgie ist erst einmal ausgestanden. Mythen von amerikanischer Stärke, Opferbereitschaft und Gemeinschaft prägten das 9/11-Gedenken. Die Politik braucht diese Mythen, weil die Realität anders aussieht. Bezogen auf die nationale Sicherheit und selbst beim Streit um Barack Obamas gerade dem Kongress vorgelegtes Konjunkturprogramm – 450 Milliarden Dollar für Jobs.

Es gibt kein Rezept für das Trauern. Trauer um einen geliebten Menschen kann Hinterbliebene auch noch zehn Jahre danach und später einholen. Und ein mitfühlender Mensch fühlt mit den Leidtragenden – am zehnten Jahrestag und auch noch am 20. Doch dieses Erinnern an die entsetzlichen Ereignisse vom 11. September 2001 sorgte für einen eigenartigen Gedenktag in den Vereinigten Staaten: Bei der offiziellen Zeremonie in Manhattan vor dem neuen Memorial – der Präsident hinter Panzerglas – wurden die Hinterbliebenen zu Statisten einer staatstragenden Aufführung, zu bewundernswerten Individuen, die Amerikas Einzigartigkeit zu bestätigen hatten. Die USA seien heute stärker als vor zehn Jahren, hieß es: Balsam fürs gemeine Volk und vermeintlicher Alleskleber für eine brüchige Supermacht.

Präsident Obama ist ein guter Trostspender. Zusammenhalten als Volk, die wirklich vereinigten Staaten von Amerika, das sind ohnehin seine Lieblingsthemen. Einiges habe sich verändert seit 9/11, räumte er ein beim „Konzert für Hoffnung“, dem abschließenden 9/11-Event am Sonntagabend im Kennedy Center von Washington. Aber die Charakterstärke der Nation habe sich nicht verändert. Auch nicht der Glaube der Amerikaner an Gott und an die amerikanischen Ideale Freiheit und Gleichheit. Es sangen Patty LaBelle und Alan Jackson. Der Country-Star intonierte seine 9/11 Hymne: „Wo warst Du, als die Welt stehenblieb an diesem Septembertag“, mit dem bemerkenswerten Text, er könne Irak und Iran nicht auseinander halten, kenne aber Jesus und rede mit Gott.

Amerika lasse sich nicht von Angst beherrschen, sondern habe Willenskraft und Entschlossenheit bewiesen, seine Bürger und seine Lebensweise (way of life) zu verteidigen, betonte Obama. Zwei Millionen Amerikaner seien in den Krieg gezogen – es seien keine Wehrpflichtigen, sondern Freiwillige gewesen.

Gunst der Stunde

Mit dieser Rhetorik werden die Anschläge auf das Pentagon und das World Trade Center zur Rechtfertigung für das gesamte sicherheitspolitische Paket, das George W. Bush eingewickelt und Barack Obama zugeschnürt hat. Man tut so, als ließen sich der nicht enden wollende Krieg in Afghanistan, die andauernde Besetzung des Irak durch die US-Armee sowie Drohnen und Bomben auf Pakistan, auf Jemen, Somalia und irgendwie auch noch Libyen plus polizeistaatlichen Maßnahmen zu Hause und ein wirtschaftslähmender Rekordetat fürs Militär mit den Attentätern von 9/11 begründen.

Was das Team um George W. Bush und Vizepräsident Dick Cheney in diesen ersten Tagen der real existierenden gesellschaftlichen Solidarität, die auf den Schock von 9/11 tatsächlich folgte, entschieden hat, war keineswegs automatisch und zwingend. Die Entscheidungsträger damals nutzten die „Gunst der Stunde“, um ihre zuvor nicht mehrheitsfähige Vision vom Sicherheitsstaat umzusetzen und den Kampf gegen al-Qaida zum weltweiten Krieg zu erklären. Man hätte auch anders vorgehen können.

Tatsächlich ist der gepriesene gesellschaftliche Zusammenhalt auf der Strecke geblieben seit 9/11. Kriegseifer geht in den USA des 21. Jahrhunderts Hand in Hand mit Sozialdarwinismus, mit Wirtschafts- und Steuergesetzen, mit denen sich die Gesellschaftsschichten ganz oben abkapseln. Angesichts der prekären Wirtschaftslage vieler junger Menschen darf man Zweifel haben an der Freiwilligkeit der von Obama gepriesenen Freiwilligen-Streitkräfte.

Tief greift sie in der Krise nicht, die beim Jahrestag beschworene Gemeinschaft. Selbst Obamas jüngstes Konjunkturprogramm für Arbeitsplätze – 14 Millionen Amerikaner oder 9,1 Prozent sind arbeitslos (rechnet man Teilzeitarbeiter auf der Suche nach Vollzeit hinzu, käme man auf 17 Prozent) – hat im republikanisch kontrollierten Repräsentantenhaus nur begrenzte Chancen, obwohl es marktwirtschaftliche Konzepte aufgreift. Von den vorgesehenen 450 Milliarden Dollar kämen 200 Milliarden durch Neuausgaben zustande, 250 Milliarden durch Steuererleichterungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind umstritten; das Weiße Haus wagt keine genauen Prognosen. Wirtschaftsexperten rechnen mit einem Zugewinn von bestenfalls zwei Millionen Jobs. Nicht viel, aber immerhin, schreibt Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, ein häufiger Kritiker der wirtschaftlichen Zaghaftigkeit des Weißen Hauses: Besser als gar nichts.

Der Euro ist schuld

Der Präsident hat seinen Finanzminister Timothy Geithner überraschend zum Treffen der EU-Kollegen ins polnische Breslau geschickt und nimmt Europa in die Pflicht wie selten zuvor. Amerika leide unter der Eurokrise, sagt er im Interview mit AFP und dpa, als sei ihm das erst jetzt plötzlich in aller Konsequenz klar geworden. „Europa hat zwar eine geeinte Währung, aber es verfügt über keine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Und das schafft große Probleme.“ Ihn sorge nicht nur die prekäre Lage Griechenlands, auch Spanien und Italien würden wenig Anlass für Optimismus bieten. „Was passiert, wenn es die Märkte weiterhin auf diese beiden großen Länder in Europa abgesehen haben?“ Da klingen mögliche Rechtfertigungen an, sollte Barack Obama mit dem vermutlich letzten Konjunkturprogramm seiner Amtszeit ohne Fortune bleiben.

Konrad Ege schrieb zuletzt über die Hurrikan-Woche an der amerikanischen Ostküste

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