Colin Powells Eingeständnis kam überraschend: Die US-Regierung habe "nicht damit gerechnet", dass der Widerstand gegen die Besatzung im Irak "so intensiv" sein würde und "so lang andauern wird", sagte der Außenminister vergangenen Sonntag im Fernsehsender NBC. Die USA befänden sich nun in einer "sehr schwierigen Lage". Über die "schwierige Lage" der Iraker sagte er nichts.
In Washington kollidieren gegenwärtig Präsident Bushs Durchhalteprognosen ("geduldig und entschlossen sein") mit der harten Realität vor Ort. Vor Powell hat das keiner in der Regierung zugegeben. Diese Woche wurde in Bagdad das unter Kontrolle der US-Armee stehende Hotel Al Rashid mit Raketen beschossen, und der dort residierende Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz kam mit dem Schrecken davon. Selbstmordattentäter verübten Anschläge auf Polizeiwachen und auf das Gebäude des Roten Kreuzes im Stadtzentrum. Dutzende Opfer, hauptsächlich Iraker. Das Land soll anscheinend vollends unregierbar gemacht werden, auch durch tabubrechende Angriffe auf den humanitären Hilfsverband, ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wie UN-Generalsekretär Kofi Annan meinte.
Von Tag zu Tag werden die Nachrichten schlechter für die Besatzer. Nach Angaben von Militärsprechern kommt es inzwischen täglich zu durchschnittlich 25 Angriffen auf "Koalitionsstreitkräfte". Oft antwortet das offizielle Washington aber nicht mit neuen Initiativen, sondern mit neuer Propaganda. Der Präsident ging im Oktober auf PR-Offensive, sprach in regionalen TV-Sendern "direkt zum Volk", um den "Filter" zu umgehen, mit dem "die Medien" sonst "gute Nachrichten" aus dem Irak wegsortierten. Nach dem Grundsatz, dass Bilder mehr sagen als Worte, verbat das Verteidigungsministerium das Filmen und Fotografieren aus dem Irak heimkommender Särge. Auf der Website des für Bagdad zuständigen US Central Command (www.centcom.mil) steht viel über Wiederaufbau. Auch über Spielzeug, das US-Soldaten für kranke Kinder im Irak sammelten. Erst ganz unten informiert Central Command über gefallene und verwundete Soldaten. "Der Vorfall wird untersucht", heißt es in diesen Mitteilungen.
Irgendjemand im Verteidigungsministerium, der sich nun wohl unter dem Schreibtisch versteckt, organisierte vor kurzem eine "Leserbriefkampagne" von im Irak stationierten Soldaten mit Sätzen wie "Ich bin stolz auf unsere Arbeit im Irak, und ich hoffe, dass auch Ihre Leser stolz sind". In der Kleinstadt Olympia im Bundesstaat Washington wurden Redakteure stutzig über zwei nahezu identische Briefe. Olympia war kein Einzelfall. Es stellte sich heraus, dass die wenigsten der Soldaten die Briefe selbst geschrieben hatten. Manche waren nicht einmal unterschrieben, um so mehr überraschte es die mutmaßlichen Autoren, als sie erfuhren, sie hätten einen Leserbrief nach Hause geschickt.
Powells Zugeständnis vor der Kamera, man habe sich verschätzt, räumt zumindest indirekt ein, dass es inzwischen immer weniger nützt, die desolaten Zustände vor Ort mit Blumen zu schmücken. Bei den Anti-Kriegskundgebungen am Samstag in Washington und San Francisco - mehrere Zehntausend machten mobil - marschierten auch zahlreiche Angehörige von Soldaten im Irak. "Bringt unsere Boys heim!", war auf vielen Transparenten zu lesen. Noch kann man von keiner Massenbewegung der Uniformierten und Militärfamilien wie im Vietnamkrieg sprechen - damals waren die meisten Soldaten Wehrpflichtige und nicht wie heute Berufssoldaten. Aber der Unmut wächst, auch in Folge jüngster Medienberichte über die schlechte Versorgung verwundeter Soldaten in Fort Stewart (Georgia), die in ihren Krankenabteilungen nicht einmal eigene Toiletten hätten und wochenlang auf den Arzt warten müssten. Zweifel packten anscheinend selbst Donald Rumsfeld. Zumindest in seinem Ende Oktober bekannt gewordenen "Geheim-Memorandum" über den Krieg gegen den Terrorismus (siehe Seite 3) fragt sich der sonst so selbstsichere Verteidigungsminister, ob die USA den "Krieg gegen den Terrorismus" wirklich "gewinnen". In diesem Krieg ist kein Ende in Sicht, auch wenn die USA in Afghanistan, unter anderem dank der Bundeswehr und europäischer Verbündeter, gerade eine gesichtswahrende Entflechtung in die Wege leiten. Das einmal versprochene wirtschaftliche und politische Engagement für ein Afghanistan der Zukunft ist fast schon vergessen.
Im Irak gibt es kaum Spielraum. Truppenabzug jetzt - die Forderungen der Kundgebungen - ist unvorstellbar aus Sicht des Weißen Hauses. Und auch nicht realistisch. Es drohten sowohl Chaos als auch die Brutalität von Gruppen wie denen, die nicht vor einem Anschlag auf das Rote Kreuz in Bagdad zurückschrecken. Aber gar kein Truppenabzug in absehbarer Zeit? Darauf scheint die US-Politik hinauszulaufen. Man müsse bessere Befriedungs- und Counterinsurgency-Operationen starten, empfahl kürzlich Gary Schmitt, Direktor des "Projekts für ein neues amerikanisches Jahrhundert", ein kriegstreibendes Institut mit engen Verbindungen zum Pentagon. Die Voraussetzungen seien gut, mit dem entsprechenden politischen Willen könnten die US-Streitkräfte diesen Krieg gewinnen. Die negativen Konsequenzen eines langen Krieges seien dem Überleben der irakischen Guerilla vorzuziehen.
Präsident George W. Bush verkündete am Tag nach dem Al-Rashid-Anschlag, die Aktionen der "Terroristen" seien Akte der Verzweiflung, weil die "Koalitionsstreitkräfte" so viel Erfolg hätten im Irak. Bush hat wohl das Powell-Interview verpasst.
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