Friedlicher Machtwechsel alle vier Jahre gilt als Inbegriff der US-Demokratie. In diesem Jahr könnte dieses Votum unfriedlich und chaotisch verlaufen. Die gesellschaftlichen Konflikte im Vorfeld sind alles andere als friedlich. Präsident Trump schickt Spezialeinheiten in Tarnuniform gegen Protestierende und lässt dazu passend Law-and-Order-Spots produzieren. Seit seinem Amtsantritt stellen sich die Fragen: Wie weit geht er, um autoritäre Sehnsüchte zu erfüllen? Wann tritt die Opposition in seine Ablenkungsfallen und vergeudet Energie beim Protest gegen jeden Aufreger auf Twitter? Mit Schock-Tweets, alternativen Wahrheiten und Lügen haben der Präsident und seine Partei das Land desorientiert.
Manche Ankündigungen bleiben ohne reale Konsequenzen – manche haben dramatische. Derzeit geistert der Alarmruf durch die oppositionelle Welt, Trump werde das Wahlergebnis am 3. November im Fall einer Niederlage möglicherweise nicht akzeptieren. Jüngst hat er im Interview für Fox News erklärt, er sage „nicht einfach Ja“ zu der Frage, ob er den Wahlausgang anerkennen werde. Der demokratische Anwärter Joe Biden warnt, Trump wolle die Wahlen stehlen.
Nach mehr als 140.000 Covid-19-Toten, Millionen verarmter Menschen, in Gewalt ausufernden Kundgebungen gegen Rassismus sowie dem Einbruch der „besten Wirtschaft aller Zeiten“, die Donald Trump geschaffen haben will, drängt sich die Sorge auf: Vielleicht geht der Präsident weiter, als man sich das vorstellen möchte. Ein Kommentar in der New York Times, Barometer liberalen bürgerlichen Unbehagens, fragt mit Blick auf die Sondereinheiten: „Können wir das schon Faschismus nennen?“
Mancher US-Amerikaner zweifelt nach mehr als drei Jahren mit dieser Regierung an der in Schulbüchern gelehrten Auffassung von der Einzigartigkeit der Nation und daran, dass die Verfassung Demokratie und Republik schon bewahren werde. Es ist immerhin der Präsident, der dazu aufgerufen hat, die Staaten Michigan, Minnesota und Virginia „zu befreien“, als dort gegen Corona-Restriktionen der lokalen Autoritäten protestiert wurde. Und es ist der Präsident, der Generalinspekteure entlässt, wenn sie Missetaten aufzudecken drohen, und seinem Steigbügelhalter Roger Stone die wegen Justizbehinderung und Falschaussage bei den Russland-Ermittlungen verhängte Haftstrafe erlässt. Trump suhlt sich im Selbstmitleid, als Opfer eines „tiefen Staates“. Die Opfer-Rhetorik funktionierte 2016, als er den Sprecher der Benachteiligten gab. „Ich habe die politische Bühne betreten, damit die Mächtigen nicht mehr auf Menschen einschlagen können, die sich nicht verteidigen können“, versicherte Trump damals. Er allein und nur er könne alles wieder in Ordnung bringen: „I alone can fix it.“
Die Anwälte bereiten sich vor
Angesichts zahlreicher Umfragen, die ihm im Sommer und Herbst 2016 keine großen Hoffnungen machten, ließ Trump auch vor vier Jahren bei der Fernsehdebatte mit Hillary Clinton die Frage offen, ob er eine Niederlage akzeptieren würde. Er gewann – mit 2,9 Millionen Stimmen weniger – dank seines Vorsprungs im entscheidenden Gremium, dem Electoral College, und fühlte sich betrogen: Clinton habe mehr bekommen, weil die Wahl manipuliert gewesen sei und es womöglich drei bis fünf Millionen illegal abgegebene Stimmen gebe.
Trump hat nach seinem Sieg eine Kommission eingesetzt, um Wahlbetrug nachzuweisen. Sie fand nichts und stellte ihre Arbeit ein. Was Trumps Beschwerden bis heute keinen Abbruch tut. In den USA sind die 50 Bundesstaaten und lokale Behörden für den Wahlverlauf zuständig, für Öffnungszeiten der Wahllokale, für Regeln zur Briefwahl, für die Registratur der Bürger, die wählen wollen, für die Wählerlisten und die Auszählung. Was Demokraten meinen, wenn sie davon sprechen, dass Trump „stehlen“ könnte: Im Wahlsystem bieten sich viele Möglichkeiten zur Manipulation. Republikanisch regierte Staaten säubern gern Wählerlisten. Wahllokale können kurzfristig verlegt und deren Öffnungszeiten reduziert werden. Trotz guter Umfragen für Joe Biden: Der Präsident wird indirekt gewählt. Entscheidend für die Zusammensetzung des Electoral College sind die Abstimmungen in den einzelnen Bundesstaaten.
Ganz abgesehen von dirty tricks befürchten Wahlexperten Chaos wegen der voraussichtlich vielen Briefwähler. Die unterfinanzierte Post werde die geschätzten 100 Millionen oder mehr Stimmzettel nicht rechtzeitig abstempeln und ausliefern können. Wahlbehörden und Postämter dürften so überfordert sein wie die Labore, die Corona-Testergebnisse erst nach einer Woche mitteilen.
Wie das am 3. November aussehen könnte, erlebt gerade der Staat New York. Dort hatten Politiker bei den Vorwahlen am 23. Juni zur Briefwahl aufgefordert. Ende Juli war noch immer nicht ausgezählt. Zehntausende von Stimmzetteln verbleiben in ungeöffneten Briefumschlägen. In vielen Fällen ist deren Gültigkeit wegen fehlender Stempel der Post oder verspäteten Eingangs umstritten.
Gewählt wird am 3. November. Die Fernsehsendungen in der Wahlnacht dürften diesmal anders aussehen, nicht nur wegen des Maskentragens. Resultate könnten auf sich warten lassen. Anwälte beider Parteien bereiten sich auf Gerichtstermine vor. Erinnerungen an den Wahltag 7. November 2000 werden wach, als der Republikaner George W. Bush gegen den Demokraten Al Gore antrat. Es ging um die Auszählung im letztendlich wahlentscheidenden Florida. Das oberste US-Gericht schloss sich am 12. Dezember der republikanischen Interpretation an. Bush wurde mit angeblich 537 Stimmen Vorsprung in Florida Präsident, Gore gratulierte.
Proteste hielten sich in Grenzen, was 2020 nicht vorstellbar ist. Trump wäre während der Auseinandersetzung um den Ausgang noch Präsident. Machtwechsel ist erst am 20. Januar 2021.
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