Auch Gott ist nicht neutral

11. September 2002 Die USA und der Rest der Welt

Der Geschichte schien für einen Moment still zu stehen an diesem Tag. So der unwillkürliche Eindruck im Moment des Entsetzens. Doch die Anschläge in den USA und ihre Folgen wiesen auf etwas Anderes - die Geschichte blieb nicht stehen, sie beschleunigte sich, auf abschüssiger Bahn.

Eine blau-weiß-rote Orgie der Erinnerungen ist angesagt in den USA am 11. September. Auf den Fernsehbildschirmen wird man sie wieder sehen: Die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Center, stehend unter strahlend blauem Herbsthimmel, dann hinter grauem Rauch und Staub in Schutt und Asche zusammenbrechend. Menschen werden den Kameras Auskunft geben: Wo sie waren an jenem Tag, ob sie Angst hatten, ob und wie sich ihr Leben verändert hat. Politiker werden sagen, die Opfer seien Helden, besonders die Feuerwehrleute. Und Bereitschaft zum Krieg gegen den Terrorismus bekräftigen. Geistliche werden Gebete sprechen.

Alles hat sich verändert, seit dem 11. September, hört man oft. Der Schock steckt tief in den Knochen, aber je weiter man weg kommt von New York, geographisch gesehen, um so mehr lassen die Emotionen nach. In den Wochen nach dem Tag der Tat waren die Kirchen gerammelt voll, Prediger prophezeiten Glaubenserneuerung historischen Ausmaßes. Inzwischen ist die Zahl der Kirchgänger wieder auf das "Vorher" gesunken. Der Run auf die "I Love New York" T-Shirts stockt schon länger. Am meisten sehnen sich die Amerikaner wie Menschen anderswo nach Normalität. Verteidigungsminister Rumsfelds Warnungen vor einem jahrzehntelangen Krieg gegen den Terrorismus stören den Alltag. Rumsfeld will keine Normalität.

Friedensforscher hatten gelegentlich vor Explosionen auf Grund der ungerechten Verteilung der Ressourcen und des wachsenden Fundamentalismus gewarnt. Aber die Aufstände brachen immer woanders aus, und die Amerikaner fühlten sich sicher. Bis zum 11. September 2001, als Unvorstellbares Wirklichkeit wurde. Ein Angriff auf die Symbole amerikanischer Macht, das kapierte jeder, da brauchte es kein Bekennerschreiben. Ein Angriff auf New York, die Welthauptstadt des Finanzkapitals, den Ausdruck amerikanischer Lebensweise schlechthin oder - je nach Blickwinkel - Sodom und Gomorra. Schon Hitler hatte davon geträumt, Manhattan mit dem "Amerikabomber" oder Raketen zu treffen.

Ums Leben kamen am 11. September freilich eher untergeordnete Mitarbeiter der Macht, viele Arbeiter, Gewerkschafter, Feuerwehrleute. In New York etwa 3.000, im Pentagon und beim Crash des vierten Flugzeuges in Pennsylvania fast 300. Für die Angehörigen dieser Menschen hat sich in der Tat alles verändert.

New York will sich rächen

Kurz nach dem 11. September, der Gestank von Verbranntem hängt über Lower Manhattan. Ground Zero qualmt. Sattelschlepper transportieren die ersten der im Inferno verformten Stahlträger. Feuerwehrhäuser werden zu Tempeln. Viele stellen Fotos toter Kollegen aus, New Yorker bringen Blumen, Sandwichs, Karten, Briefe. Die New Yorker wollen sich rächen, ja, die Regierung müsse sicherstellen, dass so etwas nicht mehr passieren werde. Aber keine Forderung nach einem endlosen Weltkrieg gegen den Terrorismus. Übergriffe gegen Muslime sind verglichen mit anfänglichen Ängsten selten. Vielmehr suchen viele Amerikaner Kontakt zu Muslimen, um die Religion zu verstehen.

Natürlich hätten die USA manche Probleme, Rassismus und so weiter, sagt der Iman der Malcolm Shabbazz Moschee in Harlem, der ehemaligen Kapelle von Malcolm X (*). Doch gebe es kein muslimisches Land im Nahen Osten, wo er so unverblümt reden könne wie in den USA. Diese Freiheit hätten die Attentäter zerstören wollen.

Inzwischen haben George W. Bush und seine Umgebung das politische Klima verändert. Bush hätte ja die Wahl im November 2000 verloren, wären in Florida alle Stimmen gezählt worden. Erst der 11. September macht ihn wirklich zum Präsidenten und Oberbefehlshaber eines weltweiten Krieges gegen einen schwer zu definierenden Feind. Es ist Krieg, heißt es. Aus ist es vorübergehend mit den Witzen über Bushs Probleme, ausländische Namen auszusprechen. Keine Fahndung nach den Hintermännern, sondern Krieg. Mit Gottes Hilfe, versteht sich, denn Gott sei nicht neutral. Sagt Bush. Nach den ersten "Solidaritätswochen" muss der Rest der Welt zur Kenntnis nehmen, dass Bushs Appelle zum gemeinsamen Handeln nicht bedeuten, die Weltgemeinschaft werde auch gemeinsam entscheiden. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wenn Gut Böse bekämpft, erübrigt sich die Debatte.

Auf dem Boden der Feinde

Erstmals seit 1945 wieder ein guter Krieg mit einem eindeutig bösen Feind. Freilich auch erstmals ein Krieg nicht gegen eine Nation, sondern ein angeblich global agierendes Netzwerk. Die nach dem Kalten Krieg ideologisch driftende Nation findet festen Boden. Angesichts der humanitären Katastrophe in New York will im Ausland anfangs niemand abseits stehen oder die in den USA gestellte Frage ehrlich beantworten: Warum hassen sie uns so? Einwände, dass der Beifall vieler für den angeblich vom religiös-faschistischen Millionär Osama bin Laden in Auftrag gegebenen Massenmord etwas mit den Strukturen der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit und der Arroganz im Weißen Haus zu tun habe, gelten als anti-amerikanisch.

Die Welt muss sich daran gewöhnen, dass die USA alleinige Weltmacht sind und entsprechend entscheiden. Clintons Außenministerin Madeleine Albright hatte von den USA als der "unverzichtbaren" Macht gesprochen. Jetzt ist man alleinige Macht. Im Magazin Foreign Affairs heißt es dazu: Maßgebend bei Entscheidungen sei, was die USA tun wollten, und nicht, was sie tun müssten. In dieser schönen neuen Welt hat sich Bush ermächtigt, präventiv loszuschlagen. Völkerrecht hin, Völkerrecht her. Die USA müssten die Schlacht "auf dem Boden der Feinde führen", erklärt Bush im Juni in seiner atemberaubenden Ansprache in der US-Militärakademie. Die Streitkräfte müssten den "schlimmsten Bedrohungen" begegnen, "bevor sie auftauchen".

Ob sich das durchziehen lässt? Natürlich, allein schon wegen der enormen militärischen Macht der USA, die mehr Geld für Rüstung ausgeben als die nächsten 25 Nationen zusammen. Da kommt kein anderes Land mehr mit. Doch vollkommen unabhängig vom Rest der Welt sind die Amerikaner auch nicht. Europa könnte es darauf ankommen lassen: Was wäre, wenn Deutschland keinen deutschen Weg ginge, sondern einen europäischen? Wenn es Amerika den Gebrauch von NATO-Stützpunkten verweigern würde, sofern der "Krieg gegen den Terrorismus" europäischen Interessen zuwiderläuft?

Henry Kissinger warnt wie der strenge Vater eines widerspenstigen Teenagers, der ausziehen will: Die Europäer sollten es sich "genau überlegen", ob sie wirklich die transatlantische Abkoppelung wollten, nachdem Amerika Europa 50 Jahre lang beschützt habe. Doch sollte sich Kissinger eher um seine Landsleute sorgen, hängt doch die Zukunft des Krieges von deren Mitwirkung und Zustimmung ab. Nicht umsonst werden die Erinnerungswellen und Terrorwarnungen hochgepumpt. So tief geht die Akzeptanz des Terrorismuskrieges möglicherweise gar nicht, wenn es konkret wird. Nach jüngsten Umfrage würden 37 Prozent der College-Studenten den Wehrdienst verweigern, sollte die Wehrpflicht wieder eingeführt werden.

Namenlos und rechtlos

Im täglichen Leben erfahren die Amerikaner den Anti-Terror-Krieg allein durch die kaum mehr ernst zu nehmenden häufigen Terrorismuswarnungen. Auch wenn der Präsident immer wieder sagt, das Land befände sich im Kriegszustand, und Justizminister Ashcroft einen Polizeistaat baut. Das FBI lüge Richter an, um Lauschangriffe gegen "Terroristen" zu erwirken, rügt der im Geheimen tagende zuständige Gerichtshof Ende August. Öffentlich. Das neue Ministerium für Heimatschutz bekommt 170.000 Beamte und Angestellte. Hunderte Verdachtspersonen und "materielle Zeugen" verschwinden monatelang namenlos und ohne Anwalt in Gefängnissen.

In Deutschland tut man sich oft schwer, "die Amerikaner" zu verstehen. Sie haben ein ungetrübtes Sendungsbewusstsein und fühlen sich dafür zuständig, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen. Die USA sind wie eine Kirche, schreibt der Soziologe Norman Birnbaum. Über den grundlegenden Glauben, dass Amerika auch bei seinen schlimmsten imperialen Aktionen Gutes will, wird in Amerika wenig diskutiert. Gerade deshalb hat der Angriff vom 11. September so schockiert.

Die USA, gegründet von Einwanderern, den Besten aus der Alten Welt, wie man in der Neuen sagt. Amerika repräsentiert für viele so viel und so viel Verschiedenes, weckt Hoffnungen und widersprüchliche Emotionen. Millionen Einwanderer kommen noch immer ins Land der Freiheit oder - andere Interpretation - ins Imperium, um an den in diversen Hinterhöfen geplünderten Gütern teilzuhaben. Amerika hat Deutschland befreit im Zweiten Weltkrieg vom "deutschen Weg". Die Gummisohlen verdrängten genagelte Stiefel und Jazz die Marschmusik. Die alte Bundesrepublik hat profitiert vom Kalten Krieg, man liebte die Musik von drüben, viele fortschrittliche Impulse kamen aus den USA. Die Amerikaner selbst sind hilfsbereit und großzügig, fast naiv und politisch uninformiert, aber stolz auf ihre Republik und Verfassung. Wer genau hinschaut, muss seine Amerikavorurteile ständig hinterfragen.

Vor fast genau 20 Jahren demonstrierten in New York mehr als eine Million Menschen für Abrüstung. Heute hört man wenig von Protesten gegen den Terrorismus-Krieg. Haben sich die Menschen verändert, oder die meinungsschaffenden Eliten? Eher die Eliten. Stiftungsgelder und Unternehmerspenden fließen überwiegend an rechte Denkfabriken und Publikationen - und Politiker. Schon seit gut zwei Jahrzehnten. Bei Umfragen nach konkreten Anliegen - sozialpolitisch, außenpolitisch und so weiter - sind Amerikaner mehrheitlich liberal, aber sie stimmen für konservative Kandidaten, die im Wahlkampf oft mehr Geld haben und zudem ihre Rhetorik in die Mitte rücken. Siehe George W. Bush, den Kandidaten der Ölindustrie. Im Zweiparteiensystem ist die Auswahl ohnehin begrenzt Und wenn der Präsident Marschbefehle gibt, ist es die erste Reaktion der Amerikaner mitzuziehen.

Der Politikwissenschaftler Benjamin Barber schrieb schon vor Jahren ein Buch mit dem Titel Jihad gegen McWorld. Jihad, damit meinte er (vielleicht etwas missverständlich) den Widerstand derer ganz unten, die sich nur in fundamentalistischen und ethnischen Strukturen zurechtfinden und jetzt von der globalen Konsumkultur und den multinationalen Konzernen überrollt werden. Beide - Jihad und McWorld - hätten wenig Interesse an Menschenrechten, Demokratie und Freiheit. Der Widerstand derer ganz unten werde schnell zu dem, was wir Terrorismus nennen. Wenn McWorld weiter darauf bestehe, sich die Welt Untertan zu machen, noch öfter als es bisher der Fall war.

Verbündete auch in den USA

Bei der Debatte über den Krieg gegen Terrorismus geht es auch um das deutsche Selbstbild. Obwohl Deutschland doch genauso Nutznießer ist von der McWorld wie Amerika, tun Deutsche und Europäer gern so, als seien sie - verglichen mit den Amerikanern - entschieden weitblickender. Sie lehnen einen Angriff auf den Irak ab, aber was folgt daraus? Man lässt beispielsweise die staatliche Entwicklungshilfe mit ihrem bescheidenen und rückläufigen Etat vor sich hindümpeln. Die Tobin-Steuer setzt sich nicht durch. So anders als die so arroganten Amerikaner sind die Deutsche gar nicht, wenn es drauf ankommt, globale Gerechtigkeit ernst zu nehmen.

Im Rest der Welt muss ein Fünftel der Menschen mit einem Euro am Tag auskommen. Mehr als eine Milliarde Menschen haben keinen sicheren Zugang zu sauberem Trinkwasser, der Graben zwischen arm und reich wird immer breiter. In vielen Ländern wachsen junge Menschen ohne Zukunft auf, aber dank Satellitenfernsehen sehen sie, wie die Anderen leben. In Pakistan schicken Eltern die Söhne auf Religionsschulen, weil sie dort etwas zu essen bekommen. Die No-future-Hoffnungslosigkeit wird von autoritären, fundamentalistischen Bewegungen ausgenutzt. Sie haben wenig anzubieten, vermitteln aber Identität, die den Menschen in einer globalisierten und konsumorientierten Wirtschaft geraubt wird.

Der Widerstand gegen den Anti-Terror-Krieg muss weit über Kundgebungen gegen US-amerikanische Militärschläge hinausgehen. Er sollte zur Bewegung für globale Gerechtigkeit werden. Friedenspolitik ergibt nur einen Sinn, wenn sie sich für Gerechtigkeit zu Hause und im Rest der Welt einsetzt. Dafür fänden Europäer Verbündete im Ausland, auch in den USA.

(*) Amerikanischer "Black Nationalist"-Führer. 1965 ermordet

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