Für viele US-Amerikaner links der Mitte ist bis heute überhaupt nicht nachvollziehbar, dass eine starke Minderheit der Landsleute unbeirrt aufseiten Donald Trumps steht. Bald wird die Opposition testen können, ob sie ihren Protest gegen den seit anderthalb Jahren regierenden rechten US-Präsidenten in politische Macht umsetzen kann, ob das andere Amerika stärker ist: Die Zwischenwahlen am 6. November sind der Härtetest. Abstimmungen über die Kandidaten laufen seit Wochen. Nach all den Anti-Trump-Versammlungen, den zahllosen Meinungsartikeln und endlosem Spott in Comedy-Shows wird sich zeigen, ob die Demokraten wirklich stark genug sind, um in Senat und Repräsentantenhaus die republikanische Mehrheit zu kippen. Ob sie mehr Gouverneursämter besetzen und mehr Parlamente von Bundesstaaten erobern können.
Wie das gehen soll, wird gegenwärtig debattiert. Die Riege der demokratischen Kandidaten ist „bunter“ geworden, Geldgeber sollen weniger Einfluss haben. Es kandidieren mehr Frauen als jemals zuvor, wie die Politologin Kelly Dittmar vom Zentrum für Amerikanische Frauen und Politik an der Rutgers-Universität in New Jersey vorrechnet: 468 Politikerinnen – 350 Demokratinnen und 118 Republikanerinnen – wollen ins Repräsentantenhaus.
Einzelne Vorwahlergebnisse werden hochgejubelt, etwa der Erfolg der jungen Latina-Kandidatin Alexandria Ocasio-Cortez, die als ehemalige Wahlhelferin von Bernie Sanders und demokratische Sozialistin in den New Yorker Bezirken Queens und Bronx gegen den seit zwei Jahrzehnten im Kongress sitzenden weißen Abgeordneten Joseph Crowley gewann. Was im Präsidentschaftswahlkampf von 2016 noch als radikale Forderung galt, ist nun in der Mitte der Demokratischen Partei angekommen: eine umfassende Krankenversicherung, ein Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde, ein gebührenfreies oder -reduziertes Studium. Allein: Die USA sind ein großes Land, viele hundert Kandidatinnen und Kandidaten bemühen sich um Posten als Abgeordnete, Senatoren, Gouverneure. Sie tun das in sehr unterschiedlichen politischen Wirklichkeiten.
Sie habe "eine progressive Kampagne" geführt "ohne Entschuldigung", sagte Ocasio-Cortez, für "Medicare für alle, eine staatliche Garantie
für einen Job, einen grünen 'New Deal' und die Abschaffung der Einwanderungbehörde ICE", gegenwärtig im Verruf wegen ihrer Trennung
von Migrantenfamilien. (Medicare ist die staatliche Krankenversicherung für Senioren.) Rund vier Fünftel der Bewohner in Ocasio-Cortez’ Wahlbezirk sind schwarz, lateinamerikanischer oder asiatischer Herkunft; die Demokraten holen für gewöhnlich 75 Prozent der Stimmen.
Flacc Attack
Im ländlichen Südwesten des US-Bundesstaates Virginia hingegen ist Anthony Flaccavento eigentlich kein guter Name, um eine Wahl zu gewinnen. Der 9. Kongresswahlbezirk, wo der Demokrat antritt, reicht von Hochburgen des Tourismus in den Blue-Ridge-Bergen bis zu Kohlezechen an der Grenze zu Kentucky. Flaccavento klingt irgendwie ausländisch in der bodenständigen Gegend, wo überwiegend Weiße leben und viele kleine Kirchen in der Landschaft stehen. Der republikanische Amtsinhaber heißt Morgan Griffith und ist ein Jünger Donald Trumps.
Der 61-jährige Flaccavento, Gemüsebauer und Berater für lokale Wirtschaftsentwicklung, hat die Vorwahl gegen einen mehr als drei Jahrzehnte jüngeren Rivalen, der Teil einer neuen Generation mit frischen Ideen sein wollte, gewonnen. „Flacc“ attackiert „Washington“, wirbt für die staatliche Förderung örtlicher Initiativen und verlangt für die Kohleregion einen „Marshallplan“. Und damit das verstanden wird: „Ich bin Schusswaffenbesitzer. Ich werde die Rechte eines jeden gesetzestreuen Bürgers schützen, Schusswaffen zu besitzen.“
Der 9. Wahlbezirk war noch vor Jahren solide demokratisch, dann aber gewann der Republikaner Griffith bei den Zwischenwahlen 2010 nach zwei Jahren Barack Obama dank der Tea-Party-Welle. 63 Sitze im Repräsentantenhaus verloren die Demokraten seinerzeit. Es ging um die Krankenversicherung Obamacare und den ersten afroamerikanischen Präsidenten. Sie verloren auch Sitze in Landtagen, in denen über die Grenzen von Wahlbezirken entschieden wurde, die den Republikanern bisher die Mehrheit im Kongress sichern.
Die Vorwahlen der Republikaner laufen ebenfalls, und vorerst will keiner so im Weißen Haus in Ungnade fallen wie der republikanische Abgeordnete Mark Sanford aus South Carolina mit der Warnung, seine Partei werde zum „Personenkult“. Trump setzte sich umgehend für Sanfords Rivalin Katie Arrington ein, laut Wahlprospekt eine „Ehefrau, Mutter und Gläubige“, die für das Recht auf Waffenbesitz und gegen Abtreibung kämpfe. Arrington gewann knapp. Unmut über den US-Präsidenten lässt sich bestenfalls aus der relativ hohen Zahl von republikanischen Abgeordneten herauslesen, die dieses Mal nicht zur Wiederwahl antreten – 28 sind es bei den Republikanern; bei den Demokraten haben nur elf Abgeordnete genug.
Im US-Senat liegen die Republikaner derzeit mit 51 zu 49 Sitzen vorn. Alle zwei Jahre wird ein Drittel der Senatoren gewählt, wobei 26 der 35 Mandatsträger, die sich am 6. November stellen müssen, Demokraten sind. Mehrere davon kommen aus Staaten, in denen 2016 Trump gewonnen hat, und gelten als Wackelkandidaten, darunter Claire McCaskill aus Missouri, Joe Donnelly aus Indiana und Heidi Heitkamp aus North Dakota. Heitkamp neigt sich gewaltig nach rechts in ihrem 900.000-Einwohner-Staat an der Grenze zu Kanada, wo 85 Prozent der Bürger weiß sind und Donald Trump am 8. November 2016 ganze 63 Prozent verbuchen konnte. Sie habe versprochen, so Heitkamp, nicht parteipolitisch zu handeln. „Darum habe ich bei der Hälfte der Abstimmungen im Senat mit Präsident Trump gestimmt“, auch wenn das viele Leute in Washington verärgert habe. Bei den Vorwahlen hat niemand gegen Heidi Heitkamp kandidiert.
Im Repräsentantenhaus sitzen gegenwärtig 236 Republikaner und 193 Demokraten. Vielfach sind bei der anstehenden Wahl die Grenzen der Wahlbezirke von Belang. Nach einer Analyse der Website realclearpolitics.com gelten 171 republikanische Mandate als „gesichert“, in weiteren 33 Bezirken sei eine republikanische Mehrheit wahrscheinlich. So müssen sich die Demokraten auf die 25 Domänen konzentrieren, in denen Hillary Clinton 2016 mehr Stimmen bekam als Trump.
Viele Demokraten träumen davon, dass im November, zwei Jahre nach der Wahl von Donald Trump, das Zwischenwahlergebnis von 2010 wiederholt wird – nur eben umgekehrt. Sie fragen sich: Sollen ihre Attacken der Person Trump gelten, müssen Identitätspolitik und gefährdete Demokratie thematisiert werden? 2010 blieben viele demokratische Wähler zu Hause; Trumps Präsidentschaft dagegen ist permanenter Wahlkampf. So begrüßte die rechte Webseite newsmax.com Alexandria Ocasio-Cortez’ Wahlsieg, da er die Gewissheit einschließe, dass derartige Politikerinnen in den USA insgesamt nicht mehrheitsfähig seien. Trump erregte sich besonders über Ocasio-Cortez’ Forderung nach Abschaffung der Einwanderungsbehörde ICE. Total verfehlt sei das; die ICE habe in den USA „Städte von der Migrantengang MS-13 befreit“ – MS-13 meint die in Nordamerika aktiven Mara-Salvatrucha-Gangs, deren Mitglieder meist lateinamerikanischer Herkunft sind. Trumps Behauptung ist falsch, kommt aber an.
Schlag nach bei Kennedy
Manche Demokraten und Republikaner mobilisieren mit ein und derselben These: Ocasio-Cortez repräsentiere die neue Demokratische Partei. Freilich sind Mehrheiten bei den Demokraten komplex. Was in der Bronx ankommt, stößt in North Dakota nicht unbedingt auf Gegenliebe. Flaccaventos Waffenbekenntnis stört viele, die vor Wochen bei den von jungen Menschen angeführten landesweiten Demonstrationen für Schusswaffenkontrolle dabei waren.
Im Juni packte ältere Amerikaner die Sehnsucht nach Robert Kennedy, den jungen Präsidentschaftskandidaten, der 50 Jahre zuvor ermordet worden war. Für Kennedy jubelten einst Latino-Farmworker, weiße Arbeiter, Counterculture-Kriegsgegner und viele Afroamerikaner. Heute wird studiert, wie „RFK“ das geschafft hat. Eine Antwort liefert das Institut Century Foundation: Kennedy habe Liberalismus ohne elitären Anstrich präsentiert und Populismus ohne Rassismus, heißt es in einer Studie. Die Vereinigten Staaten haben sich natürlich verändert in 50 Jahren – manche Probleme jedoch nicht allzu sehr. Und Donald Trump bietet derweil zugkräftigen Populismus mit Rassismus.
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