Chaos sieht anders aus

Proteste Warum jetzt? Wer seid ihr? Was wollt ihr? Auf diese drei Fragen liefern die Besetzer von Occupy Wall Street durchaus Antworten - wenn auch unterschiedliche

Am 17. September besetzten ein paar Hundert Verwegene den Zuccotti-Park unweit der Wall Street in Manhattan im Namen der unter die Räder gekommenen „99 Prozent“. Seitdem hat sich die Protestbewegung gegen die große Macht des „einen Prozents“ in Hunderte Städte der Vereinigten Staaten ausgebreitet. So viel Protest hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben, und er hat weiter Zulauf. Auch die Kapitalismuskritikerin Naomi Klein stellt sich inzwischen hinter die „wunderbare Bewegung“. Diese sollten die Besetzer so behandeln, als wäre sie „das Allerwichtigste auf der Welt“, mahnte Klein bei einem Besuch des Zuccotti.

Die nicht ans Demonstrieren gewöhnte arbeitslose Dental-Hygienikerin Michelle Buscemi – Anfang 30, schicke Mütze, schillernde Ohrringe – wollte bei diesen Protesten einfach dabei sein, wie sie sagt. Mit ein paar Freunden fuhr sie nach Washington, wo Hunderte Anfang Oktober den Freiheitsplatz an der Pennsylvania Avenue besetzten. „Ich bin ein perfektes Beispiel für jemanden von den 99 Prozent“, sagt Buscemi, Mutter zweier Kinder. Sie kommt aus Easton im Osten von Pennsylvania, wo früher die Schwerindustrie zu Hause war. Die Leute dort hätten kein Geld mehr für Zahnbehandlungen, die Krankenversicherung sei „ein Witz“. Sie selbst sei entlassen worden. Und im Raum Easton sehe es katastrophal aus mit Jobs. Dort, wo früher die Hochöfen des legendären Bethlehem Stahlwerkes glühten, steht heute ein Casino. Die Regierung müsse doch etwas tun für die Arbeitslosen, vielleicht eine Umschulung ermöglichen, findet Buscemi. Sie habe einen Online-Kurs belegt, aber der sei mit ein paar Tausend Dollar pro Semester zu teuer geworden. Den Politikern sei das offenbar egal.

Die oben kassieren ab

Darrell Bouldin, aus dem Ort Murfreesboro in Tennessee, ist Anfang 20. College komme wohl nicht in Frage für ihn, meint er, das sei zu teuer. Tatsächlich sind in den USA die Studiengebühren so hoch, dass Amerikaner ungläubig staunen, wenn sich Deutsche über den minimalen Obolus an Unis in Germany beschweren. Bouldins Eltern managen Lagerhäuser für industrielle Firmen. Das Geschäft sei eingebrochen, berichtet er. Seine Eltern verdienten nur noch 40.000 Dollar im Jahr, halb so viel wie früher. Er arbeite in einem Hotel für 7,54 Dollar die Stunde brutto. Derzeit liegt die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen bei mindestens 20 Prozent.

Ihm sei klar, sagt Bouldin, warum die Bewegung jetzt hochkoche. Dass man das überhaupt fragen muss, verwundert ihn geradezu: Die meisten Menschen, die 99 Prozent eben, hätten die Schnauze voll, weil die ganz oben rücksichtslos abkassierten. Das fänden selbst Mitglieder der kleinen Baptistenkirche seiner Mutter. Die Idee, etwas Handfestes zu besetzen, inspiriere einfach. Politisch Engagierte seien zudem empört über die gefilmte Polizeibrutalität in Manhattan.

In dem 3.000 Quadratmeter kleinen Zuccotti-Park – umgeben von Bürohochhäusern und Filialen von Pizza-Ketten – ist am Wochenende kaum ein Durchkommen. Man beweist aber gute Manieren, darf ich bitte durch, entschuldigen Sie bitte. Die Stimmung hat etwas von einem Festival. Touristen fotografieren von den Doppeldecker-Bussen. Journalisten suchen Interviewpartner. Besonders gefragt sei ein „richtiger“ Marineinfanterist, der laufend vor die Kameras gebeten werde, witzelt ein Besetzer.

Die Polizei hat Zäune um den Zuccotti Park aufgestellt, so dass es nur ein paar Zugänge gibt. Kameras überwachen den Platz. Hubschrauber hoch oben am Himmel. Aus einer Parkecke dröhnen Trommeln. In einer anderen lagern die Schlafsäcke, Rucksäcke, Taschen und Matratzen der Dauerbewohner. Auf einer Parkseite arbeitet das „Computerzentrum“ mit einem kleinen Generator, dazu eine Bibliothek, die Essens-, Decken- und Kleiderausgabe. „Das Zeug und die Lebensmittel bekommen wir einfach so“, sagt eine Arbeiterin. Online teilen die Besetzer Sympathisanten mit, was sie brauchen. Das Wasser vom Geschirrspülen wird durch mehrere bepflanzte Kästen geleitet, um es schon mal zu reinigen. Chaos sieht anders aus.

Irgendwie funktionieren die horizontalen Strukturen, obwohl Wohlwollende und Kritiker offenbar Sehnsucht haben nach einem „Sprecher“. Die Besetzer organisieren sich in Arbeitsgruppen, man verbringt endlos Zeit in „Generalversammlungen“, um Entscheidungen zu treffen. Kommunikationsmittel sind Online-Nachrichten. Der Aufruf zum Besetzen der Wall Street kam im Juli vom kapitalismuskritischen kanadischen Print- und Online-Magazin adbusters.org. Adbusters war nach Angaben von Redakteur Kalle Lasn inspiriert vom Einsatz von Twitter und Facebook beim arabischen Frühling. Der Appell war ganz einfach. #OCCUPYWALLSTREET 17. September. Bringt Zelte!

Seitdem wird getwittert und gebloggt bei Occupy Wall Street, es werden Videos ins Netz gestellt. Man will gehört werden. Michelle Buscemi hat durch einen Link auf der Webseite des Filmemachers Michael Moore von der Bewegung erfahren. Im Zuccotti-Park selber ist allerdings Low-Tech angesagt. Gelegentlich hört man den Ruf „Mike Check!“. Mikrofon-Check. Dann hat jemand eine Nachricht für alle. Weil die Polizei „richtige“ Mikrofone verboten hat, werden Reden per „Volksmikrofon“ satzweise von denen wiederholt, die dem Redner am nächsten stehen.

Längst sind nicht nur die „jungen Hippies“ und tätowierten Anarchisten auf dem Platz. Karen Dautresme, 69 Jahre alt, würde mit ihrem sehr gepflegten Outfit in eine Wall-Street-Party passen. Sie ist pensioniert, leistet karitative Arbeit mit ihrer Kirche und steht jetzt auf dem Zuccotti-Platz. 1968 sei sie in Frankreich dabei gewesen bei den Studentenaufständen. „Und ich warte schon seit Jahren, dass die jungen Leute endlich etwas tun.“ Gelegenheitsarbeiter Anthony Hassan (55), seit drei Jahren auf der Suche nach einem festen Job, sagt, er habe Vertrauen in die jungen Menschen. Wirtschaftlich sei es schon oft schwierig gewesen, „aber noch nie sind wir so ausgeraubt worden wie jetzt. Die Wall Street wurde gerettet, die Menschen nicht.“ Hassan sitzt mit seinem Schachspiel an einem Steintisch im Zuccotti-Park. Er wisse nicht, wie das hier ausgehe. Auf jeden Fall aber verändere die Erfahrung die Teilnehmer selber – sie öffne die Augen.

Del Vitale aus Edison (New Jersey), von der Stahlarbeitergewerkschaft, steht auch auf dem Zuccotti. Seine Organisation unterstütze Occupy Wall Street. Viele Stahlarbeiter, ebenso die Lehrergewerkschaft und die Krankenschwestern, haben an Märschen vom Zuccotti durch Manhattan teilgenommen und lassen sich ein auf die Zusammenarbeit mit einer so unkonventionell strukturierten Bewegung, ohne – wie es scheint – diktieren zu wollen. Für die Arbeiter sei es schon seit Jahren schlecht, sagte Del Vitale. Lange hätten viele aber nur „vor dem Fernseher gesessen und den Trend nach unten akzeptiert“. Er sehe jetzt einen nicht zu unterschätzenden Wandel: Wer seinen Job verlor oder wer mit gekürztem Lohn leben musste, habe früher erst einmal geglaubt, er sei selber schuld. Jetzt sähen immer mehr Menschen, dass das eben nicht so sei. Die Konzerne machten wieder Riesenprofite. „Aber wo sind die Jobs?“

Gelegentlich hören die Besetzer im Zuccotti Akademikern und Denkern zu, unter anderem dem Philosophen Slavoj Žižek oder dem Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz oder Jeffrey Sachs, Wirtschaftsprofessor an der Columbia Universität in New York. Bis etwa 1980 sei das „eine Prozent“ in den USA „unter Kontrolle“ gewesen, sagt Sachs. 1980 habe das eine Prozent „nur“ neun Prozent des Gesamteinkommens kassiert. Jetzt seien es 23 Prozent. Sachs spricht von einer Globalisierung, die Konzernen in den USA Gelegenheit gebe, Löhne zu drücken. Er erwähnt die seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan dominierende Behauptung, die Regierung sei für die Gesellschaft „das Problem“. Auch viele Demokraten seien schuld. Präsident Obama treffe sich „wöchentlich mit Wahlspendern, die 35.800 Dollar zahlen können für ein Gedeck“. Sachs will konkrete Reformen, um Kapitaleinkommen und große Vermögen stärker zu besteuern, der Militäretat soll drastisch schrumpfen. „Wir sind noch immer ein großartiges Land, und wir können diese Entscheidungen treffen.“

Genialer Schachzug

Gegen zehn Uhr abends werde es ruhiger auf dem Zuccotti, sagt Will Wooten aus Denton in Texas. Das Trommeln höre endlich auf. Wooten (26) hat Journalismus studiert und keinen Job gefunden. Im Wahlkampf 2008 hat er wochenlang als Freiwilliger für Obama gearbeitet und in Jeffersonville (Indiana) die Hausbesuche koordiniert. Obama gewann in Indiana mit 20.000 Stimmen Vorsprung. Er habe keinen Heiland erwartet, meint Wooten, aber so etwas erhofft wie Franklin Roosevelt, den demokratischen Reformpräsidenten der dreißiger Jahre. Occupy Wall Street mache ihm Hoffnung. Man sei gewaltlos, gehe gut um miteinander, wolle keine Medienstars. Aber die Planung sei schwierig, und der Zuccotti Park werde wohl auf Dauer zu klein.

Die Besetzer bewegten sich in einer Grauzone, sagt Bill Dobbs, der bei der Medienarbeit hilft. Zuccotti sei ein öffentlicher Platz, die Polizei könne die Demonstranten nicht einfach raushauen. Andererseits sei unklar, was erlaubt sei. „Ihr seid auch die 99 Prozent“, stand auf einem Poster, das sich an die Uniformierten auf der anderen Seite der Barrikaden wandte. Pfefferspray sprühende Cops sahen das offensichtlich anders. Gelegentlich drängt eine Gruppe junger Männer vom Platz auf den Gehsteig, Slogans brüllend. Dunkelblau uniformierte Polizisten und ihre weiße Hemden tragenden Vorgesetzen versammeln sich dann zum Konter. Es wird explosiv. Wooten sagt, er mache sich Sorgen wegen derartiger Szenen. Die Polizei habe linke Bewegungen schon immer infiltriert und Provokateure eingeschleust. Naomi Klein ruft ebenfalls zur Umsicht auf, denn „wir haben die mächtigsten wirtschaftlichen und politischen Kräfte auf dem Planeten angegriffen“.

Das offenbar überraschte „eine Prozent“ bemüht sich um eine Antwort. „Eine wachsende Meute“ tue sich da zusammen, warnte der Chef der Republikaner im Repräsentantenhaus, Eric Cantor. In Rupert Murdochs Fox-Fernsehen wurde alarmiert, die Demonstranten hörten sich an wie der Unabomber Ted Kaczynski, der bei Briefbombenanschlägen drei Menschen umgebracht habe. Schwierig ist es für die Demokraten. Ausgerechnet die New York Times, das Hausblatt des zentristischen Establishments, hat Occupy Wall Street am vergangenen Wochenende in einem Editorial ausdrücklich verteidigt: Wegen der wirtschaftlichen Ungleichheit sei es „kein Wunder, dass die Bewegung ein Magnet geworden ist für die Unzufriedenheit“.

Obama selbst äußerte, die Demonstranten brächten „die Frustrationen zum Ausdruck, die das amerikanisch Volk fühlt angesichts der schwersten Finanzkrise seit der Großen Depression“. Gemeint ist die schwere Krise in den dreißiger Jahren. Obamas Stabschef Bill Daley meinte jedoch, er könne nicht sagen, ob die Bewegung dem Weißen Haus helfe oder nicht.

Die Bewegung hat wirtschaftliche Ungleichheit und Armut zum Thema gemacht und die scheinbar altmodische Frage aus einem Gewerkschaftslied gestellt: Which side are you on? Auf welcher Seite stehst du? Der 99-Prozent-Slogan hat sich dabei als genialer Schachzug erwiesen.

Konrad Ege ist seit 1990 USA-Korrespondent des Freitag

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