War das ein „Putsch“, den der ehemalige Präsident Donald Trump und seine Getreuen durchziehen wollten? Welcher Begriff ist angebracht für das Unterfangen, den Wahlsieg des Demokraten Joe Biden zu kippen? Ein halbes Jahr nach dem gewalttätigen Eindringen von Trump-Loyalisten in das US-Kapitol am 6. Januar bestreiten zahlreiche Republikaner die Illegalität des fehlgeschlagenen Ansturms. Beim nächsten Mal – sollte es das geben – könnte das rechte Amerika kompetenter vorgehen.
Im US-Kongress soll derzeit ein Untersuchungsausschuss die Beweggründe und das Vorgehen der Männer und Frauen prüfen, die an diesem Wintertag das vermeintliche Heiligtum der Demokratie gestürmt, Trump-Fahnen geschwenkt, einen symbolischen Galgen aufgestellt, Fenster eingeschlagen, an die 140 Polizisten verwundet und Abgeordnete bedroht haben, um die Zertifizierung des Wahlergebnisses vom 3. November zu verhindern. Entrüstung demokratischer Politiker prägte die TV-Übertragung der ersten Anhörungen. Die meisten Republikaner machen nicht mit, oder sie wiegeln ab. Neues haben die Demokraten bisher nicht aufgedeckt.
Trump sah „viel Liebe“
Die paar hundert Kapitol-Stürmer, angefangen mit dem häufig fotografierten „QAnon-Schamanen“, denen die Leviten gelesen werden, bieten ein leichtes Ziel für demokratische Empörung. Dabei sind die Trump-hörigen Randalierer letztlich eher gewaltbereite Nebendarsteller oder gar Bauernopfer in einem landesweiten Drama, bei dem demokratische Grundpfeiler anderswo sehr viel wirksamer in Frage gestellt wurden als beim Chaos im Kapitol. Zahlreiche Republikaner bezweifeln weiter Joe Bidens Wahlsieg. In Arizona prüfen „Experten“ und Freiwillige noch immer die Authentizität von Stimmzetteln. In Pennsylvania, Georgia, Michigan und anderen Staaten sollte ebenfalls nachgezählt werden. Gerichte und Wahlbehörden haben den Herausforderern nirgendwo recht gegeben. Zu unsinnig waren die Verschwörungstheorien. In Arizona wurde angeblich getestet, ob Wahlzettel Bambusfasern enthielten, als Hinweis auf eine chinesische Manipulation.
Zu Beginn der Sitzungen des Ausschusses sagten vier Polizisten aus. Sie hätten um ihr Leben gefürchtet angesichts der mit Schlagstöcken, Fahnenstangen, Feuerlöschern, Elektroschockern und Tränengas ausgerüsteten Eindringlinge. Der Beamte Aquilino Gonell verglich die Folgen der Randale mit einem „mittelalterlichen Schlachtfeld“. Er werde „auf seinen Knien sterben“, hätten ihn Trump-Anhänger angeschrien, erklärte der Polizist Daniel Hodges. Mehr als 500 der „Terroristen“, wie es ein anderer Beamter formulierte, müssen sich vor Gericht verantworten. Was man durch die Anklageschriften erfährt: Fast alle sind weiß, mehrheitlich Männer aus unterschiedlichen Einkommensgruppen, manche Mitglieder rechtsextremer Gruppen wie Oath Keepers und Proud Boys. Und die meisten führen online ein aktives Leben unter Gleichgesinnten. Viele sagen, sie hätten für Trump und gegen Wahlbetrug gehandelt.
Beim Prozess gegen den Polizisten in Minneapolis, der im Mai 2020 George Floyd umgebracht hat, betonte die Anklage, die Geschworenen sollten ihren eigenen Augen trauen und den schrecklichen Bildern vom Polizistenknie auf dem Nacken des sterbenden Mannes. Vom Überfall auf das Kapitol stehen online Stunden üblen Materials zur Verfügung, doch das mit „den eigenen Augen“ funktioniert diesmal nicht so recht. Viele Republikaner sehen keine Gewalttäter. Laut einer Umfrage des Senders CBS von Mitte Juli sind 55 Prozent der Trump-Wähler der Ansicht, die Randalierer hätten „die Freiheit verteidigt“. „Es gab so viel Liebe bei der Kundgebung. Wir hatten mehr als eine Million Menschen“, sagte Trump beim Kabelsender Fox News über die republikanische Kundgebung vor dem Ansturm. Trump hatte an diesem 6. Januar der Menge zugerufen: „Wenn wir nicht höllisch kämpfen, haben wir kein Land mehr!“
Ashli Babbitt, 35 Jahre alt, Veteranin der Luftwaffe und Mitinhaberin einer Schwimmbad-Reinigungsfirma in Kalifornien, wollte mitkämpfen. In den sozialen Medien hat sie zahlreiche Spuren hinterlassen. Auf einem Foto trägt sie ein QAnon-T-Shirt. Ein Schild am Eingang ihres Betriebes verkündete, man betrete eine „maskenfreie Zone“. Am 5. Januar schrieb sie auf Twitter, der Sturm sei ausgebrochen und er werde „in weniger als 24 Stunden“ die Hauptstadt erfassen. Videos zeigen Babbitt in einer Gruppe, die ein Glasfenster zum Sitzungssaal zertrümmert. Babbitt steigt hindurch. Ein Polizeibeamter schießt. Und Babbitt stirbt. Manche republikanischen Politiker, die dem Untersuchungsausschuss fernbleiben, fordern Ermittlungen zu diesem Vorfall. Ashli Babbitt hat den Status einer Märtyrerin erlangt. Trump erklärte, Babbitt sei eine „unschuldige, wunderbare, unglaubliche Frau gewesen, eine Militärfrau“.
Das Wahlrecht frisieren
Großes Geld von rechten Stiftungen sei in die Versuche geflossen, die Wahlen von 2020 in Frage zu stellen, hat die Autorin Jane Mayer im Magazin New Yorker dargelegt. Wahlverleugner lernen anscheinend dazu. Künftig droht wohl kein „Putsch“ mehr, der mit Verschwörungstheorien ein Votum rückgängig machen soll. Werkzeuge wären neue Gesetze, um die Stimmabgabe, besonders die Auszählung, so zu beeinflussen, dass die vielerorts republikanisch regierten Parlamente der Bundesstaaten beim Wahlresultat eingreifen können (der Freitag 29/2021). Denn laut Verfassung regeln diese Gremien den Wahlverlauf. Noch ist nicht rechtlich ausgetestet, wie weit sie gehen können, um auf Ergebnisse Einfluss zu nehmen. In mehr als 20 Staaten haben die Republikaner die Mehrheit, wozu der Wahlrechtsexperte Richard Hasen von der University of California im Onlinemagazin slate.com anmerkte: Bei der Präsidentenwahl 2024 würden die Republikaner möglicherweise nicht mit der „großen Lüge“ vom Wahlbetrug gewinnen, sondern mit juristischen Schriftstücken über die Rechte der Parlamente in den Bundesstaaten.
Der Untersuchungsausschuss im Kongress hätte mehr als genug zum Untersuchen. Die Anhörungen erinnern an die beiden Impeachment-Verfahren gegen Trump, als die Demokraten meinten, etwas tun zu müssen gegen Machtmissbrauch, und dann nur festgezurrte Ansichten bestärkt wurden. Der Ex-Präsident hat viele seiner Leute fest im Griff.
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