Zeit zum Trauern um die am 18. September verstorbene US-Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg, RBG genannt, blieb kaum. Die Republikaner machen sich bei der Ernennung des Nachfolgers nicht einmal die Mühe, so zu tun, als seien sie an einem neutralen Rechtswesen interessiert. Ginsburg, seit 27 Jahren Richterin im Obersten Gericht, repräsentierte für manchen Amerikaner ein „besseres Amerika“, auf Gleichberechtigung bedacht und tolerant. Doch so radikal war Ginsburg nicht: Nur drei der 100 Senatoren stimmten 1993 gegen ihre Ernennung. Bahnbrechend war danach ihr Engagement gegen Gender-Diskriminierung. Sie handelte aus Erfahrung. Drei Umstände hätten nach Abschluss des Jurastudiums 1959 gegen eine Stelle in einer Kanzlei gesprochen, meinte sie: Jüdin, Frau und Mutter zu sein.
In den Nachrufen ist unweigerlich von einer „feministischen Ikone“ die Rede. Der Film RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit wurde 2019 für den Oscar nominiert. Dass nun der Tod einer 87-jährigen Juristin eine Katastrophe für das progressive Amerika ist, wirft ein grelles Licht auf dessen Schwäche. Dieses Amerika setzt gern auf die Gerichte, habe man doch mit deren Hilfe manche Fortschritte errungen, heißt es. Doch wackeln das Vertrauen in die Institutionen und der Glaube an die Schiedsrichterrolle der Justiz schon lange. Wie oft haben die Gerichte Donald Trump gewähren lassen? Nun werden von den Republikanern auch letzte Illusionen entsorgt. Sie wollen einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin, der oder die eine radikale Umkehr verheißt: Das 1973 per Verfassungsgerichtsurteil kodifizierte Recht auf Schwangerschaftsabbruch soll kippen, die Machtbefugnis des Präsidenten noch ausgebaut werden und von der verhassten Krankenversicherung „Obamacare“ nichts übrig bleiben. Auch an Einschnitte bei den Wahlrechts- und Anti-Diskriminierungsgesetzen ist gedacht. Den Republikanern schwebt eine Nation vor, in der die Wirtschaft nur minimal „behindert“ wird, und Religionsfreiheit bedeutet, dass aus Glaubensgründen diskriminiert werden darf.
Sollte dem Weißen Haus das Eilmanöver der schnellen Ersetzung gelingen, würde ein Oberstes Gericht mit satter rechter Mehrheit über mögliche Unstimmigkeiten bei der Präsidentenwahl am 3. November entscheiden. Trump könnte eine Richterin oder einen Richter ernennen, die bzw. der die Gelegenheit hätte, ihm die zweite Amtszeit zu verschaffen.
Ginsburgs Biografie ist große jüdisch-amerikanische Geschichte. Sie erzählt von einer Frau mit dem Willen, die Verfassung und universellen Versprechen Amerikas für alle Menschen gleichermaßen zur Geltung zu bringen. Ruths Eltern wollten unbedingt, dass ihre Tochter „lernt, was es bedeutet, eine gute Jüdin und eine gute Amerikanerin zu sein“, hat die Washington Post Ginsburgs Biografin Jane Sherron De Hart zitiert. Ginsburgs Vater war als Teenager aus dem ukrainischen Odessa in die USA eingewandert, die Eltern der Mutter kamen ebenfalls aus Osteuropa. Im jüdischen Magazin Forward hat die 1933 geborene und in Brooklyn (New York) aufgewachsene Ginsburg vor zwei Jahren ihr Selbstverständnis erläutert: „Ich bin im Schatten des Zweiten Weltkrieges aufgewachsen. Wir haben mehr und mehr erfahren, was mit den Juden in Europa passiert ist. Das Gefühl, ein Outsider und … Teil einer Minderheit zu sein, verleiht einem mehr Mitgefühl für andere Menschen, die keine Insider sind, sondern Outsider.“
Ihre wegweisende Arbeit gegen Diskriminierung leistete Ginsburg in den 1970er Jahren beim Projekt für Frauenrechte im Verband American Civil Liberties Union (ACLU). Sie wirkte bei mehr als dreißig Verfahren gegen Diskriminierung mit. „Es war mir klar, dass ich zu Männern – den neun Richtern im Obersten Gericht – sprach, die der Ansicht waren, dass so etwas wie Gender-Diskriminierung nicht existiert“, erinnerte sie sich.
Einen aufsehenerregenden und kreativen Fall gab es 1975. Ginsburg vertrat einen Witwer, dem die staatliche Versicherung Social Security Zahlungen für den Unterhalt der Kinder verweigert hatte. Die seien nur für Frauen vorgesehen, erklärte die Behörde. Das Oberste Gericht urteilte einstimmig, diese Gender-Differenzierung sei unzulässig.
Seit Ginsburgs Tod demonstrieren der Präsident und seine Partei, wie sie Macht ausbauen wollen. Das ist nicht ungewöhnlich für Politiker, doch in der Zweiparteien-Elite der USA überwog bisher häufig der Gedanke, dass die regierende Partei eine gewisse Rücksicht nimmt auf die nicht regierende. Dies geschah im Wissen darum, dass die Karten neu verteilt werden können und diese Praxis weiterhin funktionieren sollte.
Anfang September, wenige Wochen vor ihrem Tod, wurde Ginsburg im jüdischen Magazin Moment gefragt, ob die US-Gesellschaft Fortschritte mache oder sich rückwärts bewege. Sie könne das erst nach der Wahl beantworten, so Ginsburg. Sie äußerte sich aber optimistisch zum Status der Frauen, auch wenn sie überproportional häufig in Armut lebten und am Arbeitsplatz sexueller Belästigung ausgesetzt seien. Trotzdem gebe es Fortschritte: Im Laufe ihres Lebens hätten sich lange verschlossene Türen geöffnet. Das verleihe ihr Zuversicht. Als Beispiel: Zu Beginn ihres Jurastudiums 1956 seien nur drei Prozent der US-Rechtsanwälte Frauen gewesen, heute stellten sie die Hälfte der Jurastudenten. Auch habe das Oberste Gericht seine Urteile den gesellschaftlichen Veränderungen angepasst.
Man könnte jetzt „Was wäre gewesen, wenn?“ spielen. Während Barack Obamas Amtszeit wurden Stimmen laut, Ginsburg solle angesichts ihres Alters und gesundheitlicher Probleme zurücktreten, um dem Präsidenten eine Chance zu geben, einen jüngeren Nachfolger zu ernennen. Sie lehnte das ab.
Kommentare 5
Ja, es ist ein Unglück, das RBG gerade jetzt gestorben ist. Und ja, die neue Konstellation im supreme court könnte gewisse gesellschaftliche Weichenstellungen beeinflussen.
Doch gleichzeitig finde ich die Forderungen an die Republikanern, sie müssten sich in dieser Frage politisch neutral verhalten, scheinheilig. Das System ist so gemacht, dass sich die politischen Mehrheiten auch bei der Ernennen der Richter wiederspiegelt. Hätte Obama die Mehrheit im Senat gehabt, hätte er als Nachfolger von Scalia einen liberalen Kandidaten durchsetzten können, hatte er aber nicht.
Diese Art, das System zu kritisieren, sobald es nicht zum Vorteil der eigenen Gesinnung funktioniert, halte ich für bedenklich. Als Verfassungsdemokrat muss man es auch akzeptieren können, wenn die Mehrheiten nicht in meinem eigenen Sinne entscheidet.
Im übrigen kann sich die Situation auch schnell wieder ändern. Gewinnt Biden die Wahl und die demokratische Mehrheit im Senat, hat er Gelegenheit das Ruder wieder herumzureißen.
Wie so oft stinkt der Fisch vom Kopf aus. Unter demokratischen Aspekten ist die Richter-Ernennung durch den jeweils amtierenden Präsidenten nicht zu rechtfertigen – zumal es sich beim Supreme Court um das oberste Gericht und instanzentechnisch in etwa um ein Äquivalent des bundesdeutschen Verfassungsgerichts handelt. Die Kombination unterstellt nicht nur die Judikative der Exekutive in einer kaum verbrämten Form. Da (scheidende) Präsidenten die Gerichts-Grundausrichtung potenziell über Jahrzehnte beeinflussen können, werden normale demokratische Prozederes auf eine teilweise essentielle Weise ausgehebelt.
Anlässlich der aktuellen SC-Besetzung zeigt sich wieder einmal, dass die »Checks & Balances« keinesfalls dem Etablieren einer Demokratie geschuldet sind. Vielmehr schwebte den Gründervätern eine Art Römische Republik vor – eine institutionell abgesicherte Elitenherrschaft, die alle ohne Vermögen, der richtigen Hautfarbe und dem richtigen Geschlecht ausgrenzte. Der Supreme Court ist sicher nicht die einzige US-Institution, die demokratischen Kriterien nicht genügt. Der aktuelle Konflikt zeigt, dass die vom Federal-Flügel der seinerzeitigen Gründerväter etablierten »Sicherheitsmechanismen« gegen echte, reale Demokratie sich bis auf den heutigen Tag fortperpetuiert haben. Anders gesagt: Die Mängel des Systems sind nicht erst seit Donald Trump offensichtlich geworden. der »System-Unfall« Trump zeigt lediglich, wie morsch das politische System USA mittlerweile ist.
Die Friedhöfe sind voll mit unersetzlichen Menschen...
Ansonsten gilt das Wort von Rosa Luxemburg:
"Wir leben in einer Phase, wo die wichtigsten politischen Fragen nur noch durch das eigene Eingreifen breiter Massen beeinflußt werden können:
Die plötzlichen Wendungen der internationalen Lage, Kriegsgefahr, Wahlrechtsfragen, Ehrenfragen der Arbeiterklasse, erfordern gebieterisch die Aktion der Massen."
("Taktische Fragen" in 'Leipziger Volkszeitung' vom 26. bis 28. Juni 1913. Nachgedruckt in "Gesammelte Werke" Band 3, Juli 1911 bis Juli 1914, Dietz Berlin 1980, S. 248)
Bekräftigend dazu Harry Belafonte, der im Jahre 2012 auf die impertinenten Fragen von 2 jungen Schnöseln von der Alten Tante "ZEIT"
»Nach 60 Jahren als politischer Aktivist glauben Sie noch an die Macht der Straße?« antwortete:
»Ich glaube an keine andere Macht. Alle Macht der Welt liegt auf der Straße.«
... was aber auch etwas verkürzt ist. Wenn z.B. die Rebellen in Belarus etwas erreichen wollen, dann müssen sie in den Fabriken, Schulen und Universitäten und anderen Betrieben, wo viele Leute regelmäßig zur Arbeit zusammenkommen, Vollversammlungen abhalten und Komitees wählen lassen, die sich in regionalen und überregionalen Räten föderieren.
Was die "große jüdisch-amerikanische Geschichte" angeht, gibt es ein sehr interessantes Buch "How Jews became white folks and what that says about race in America" von Karen Brodkin. New Brunswick [u.a.] : Rutgers Univ. Press, 1998. 0-8135-2590-X ; 0-8135-2589-6.
Rasse und Klasse sind fast synonym in den Vereinigten Staaten der Sklaverei und danach. Juden traten in den USA zunächst als die Näher in den Sweatshops der New Yorker Bekleidungsindustrie auf, wo sie die International Ladies' Garment Workers' Union, kurz ILGWU, gründeten, seinerzeit eine der größten Gewerkschaften der USA, und eine der ersten mit einer mehrheitlich weiblichen Mitgliedschaft.
Brodkin's Buch wird schwach in der 2. Hälfte, wo sie die Rolle der blutigen Bildung des kolonialen Siedlerstaats Israel als Brückenkopf des US-europäischen Kolonialismus gegen die arabische Nation bei der Änderung des sozialen und politischen Status von Juden in den USA nicht behandelt.
Da die Mitglieder des SCOTUS auf Lebenszeit gewählt werden, kann eine einmal von Trump und seiner Basis in Senat ins Amt gehievte Person bis zu ihrem Ableben nicht mehr daraus entfernt werden.
Bis zum nächsten Ableben eines SCOTUS-Mitglieds kann dessen Zusammensetzung nur durch Vergrößerung des Gremiums verändert werden. Die Zahl dieser öbersten Richter sei nicht in der Verfassung noch in Gesetzen festgelegt, hörte ich.
Das ist richtig, doch keiner lebt ewig und fast jeder Präsident hat bisher mindestens 2 neue Richter ernannt.