Glaubwürdigkeits-Graben

GEORGE W. BUSH UND DAS "LINKE AMERIKA" Bürgerrechtler, Gewerkschafter, Umweltschützer und vor allem "progressive Demokraten" reklamieren eine progressive Mehrheit für ihr Land

Seit 1995 haben die Demokraten die Mehrheiten im Senat, im Repräsentantenhaus (1995 noch 256 zu 178!) und in mehreren Parlamenten der Bundesstaaten verloren - zu guter Letzt auch noch das Weiße Haus. Manche Aktivisten vom linken Parteiflügel und darüber hinaus hoffen trotzdem auf eine Renaissance für das "fortschrittliche Amerika".

John Sweeney, der Präsident des Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO, ein paar hundert Bürgerrechtler, Intellektuelle, Umweltschützer, Feministinnen - ein wahres Who's Who der Progressiven - machen kein Hehl aus ihrer Wut über den "ernannten" Präsidenten. Doch als sich die Kampagne für Amerikas Zukunft Anfang des Monats in Washington trifft, ist auch vorsichtiger Optimismus spürbar: Eine klare Mehrheit der Amerikaner vertrete doch urdemokratische Grundsätze von gerechteren Steuergesetzen, umfassender Krankenversicherung, einer inklusiven Sozialpolitik und fairer Einkommensverteilung.

Warum zum Teufel haben wir dann verloren, stöhnt ein grauhaariger Hinterbänkler. Und kann Details nachlesen in einem Bericht des Demoskopen Stanley Greenberg. Der "Kulturkrieg" der Rechten gegen Clinton habe auch Gore weh getan. Vor allem junge Weiße ohne College-Ausbildung seien aus "kulturellen" Gründen zu Bush übergesprungen. Die Schusswaffenbesitzer hätten ihm geholfen. Zudem habe der jetzige Präsident programmatische Unterschiede zu Gore rhetorisch verwischt.

Bush besitze keine Mehrheit, so AFL-CIO-Präsident Sweeney: "Wir müssen jetzt so handeln, wie es sich für eine Mehrheit gebührt." Progressive Demokraten dürften ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen, meint auch die kalifornische Abgeordnete Hilda Solis: Sie habe mit Hilfe einer multiethnischen Koalition bei den Vorwahlen einen konservativen Demokraten und dann - bei den Hauptwahlen - einen Republikaner besiegt, weil sie Themen in den Wahlkampf getragen habe, die im Alltagsleben wichtig seien - bessere Schulen, höhere Mindestlöhne, volle staatliche Krankenversicherung für Rentner. Der Abgeordnete Jackson (Sohn von Jesse Jackson) warnt dennoch oder gerade darum vor einem "Glaubwürdigkeitsgraben": Vor Clinton hätten 33 Millionen Menschen keine Krankenversicherung gehabt, jetzt seien es 45 Millionen.

Sweeney legt "alternative" Steuerreform- und Haushaltspläne vor; angesichts des Budgetüberschusses solle die Regierung jedem Amerikaner eine "Wohlstandsdividende" von 400 Dollar zahlen. Das sei billiger und fairer als Bushs Vorhaben, bei dem die Hälfte der Steuererleichterungen nur einem Prozent der Amerikaner - den Reichsten der Reichen - zugute käme, während die im untersten Einkommensfünftel durchschnittlich 42 Dollar pro Familie sparten. Laut Sweeney sollte sich die Regierung auch ein Krankenversicherungsprogramm für Rentner leisten und eine entsprechende Absicherung für die Nicht-Versicherten. Bush habe sehr wohl begriffen, dass sein Programm keine Mehrheit genieße, und deshalb eine Charme-Offensive gestartet, um seinen in Wirklichkeit sozialprogramm-zerstörenden Etat in demokratischer Rhetorik zu verpacken.

Nach dem Urteil der Aktivisten werden sich die Amerikaner künftig immer stärker auf die Macht der Regierung gegen die Macht der Konzerne und des "freien Marktes" verlassen. Demokraten müssten das nutzen. "Die new economy hat den meisten Bürgern mehr Unsicherheit gebracht", meint der Wirtschaftswissenschaftler Jeff Faux. Man arbeite länger und mehr, die Jobs seien schnell gefährdet. Die Arbeitsstruktur habe sich radikal verändert - so Heidi Hartmann, Direktorin des Institute for Women's Research (Washington) - Frauen stünden jetzt fast genauso lange im Berufsleben wie Männer und verdienten noch immer viel weniger. Die Demokraten sollten das ansprechen: Gleiche Bezahlung für vergleichbare Arbeit, Reduzierung der 40-Stunden-Woche, garantierte Altersversicherung.

Ralph Nader, der grüne Präsidentschaftskandidat, ist nicht geladen, obwohl er im November mit einem für US-Verhältnisse radikalen Programm fast drei Millionen Stimmen erhalten hat. Der linke Flügel der Demokraten, die Gewerkschaften und vor allem die Bürgerrechtler sind der Ansicht, in den USA könne Opposition nur in der Demokratischen Partei gemacht werden. Naders Aktivisten sollten dort eine Heimat finden, fordert Jackson, allerdings müsse sich die Partei dafür ändern.

Auf der Suche nach Nader muss man übrigens eine Vermisstenanzeige aufgeben. Er scheint nicht zu wissen, ob er Bürgeraktivist sein will oder Politiker mit Präsidentschaftshoffnungen. Erinnerungen an die Wahlen von 1996 werden wach: Danach war Nader bis zu seiner Wiederauferstehung im Jahr 2000 von der politischen Bildfläche verschwunden.

Aber auch die "linken" oder - wie sie es lieber hören - "progressiven" Demokraten müssen schon bald unter Beweis stellen, ob sie der Auseinandersetzung gewachsen sind. Die Karten sind schlecht verteilt. Das beschworene Mobilisieren der "Mehrheit" muss erst wieder gelernt werden. Die Gewerkschaften konnten im November 1999 ihre Leute gegen die WTO mobilisieren, haben aber Schwierigkeiten, Mitgliederzahlen zu halten. Die Anti-Globalisierungsleute von Seattle sprechen zwar für viele wirtschaftlich bedrohte Amerikaner, bleiben aber eine kulturelle Minderheit. In den Clinton-Jahren hat sich die Parteiführung der Demokraten ohnehin "republikanisiert". Man sieht schon jetzt, dass die Partei kein Programm zusammenbringt, nicht einmal ein griffiges Demokratisierungsprogramm, um 2004 ein erneutes "Florida" zu verhindern.

In den Medien können sich außerdem die Progressiven kaum Gehör verschaffen. Man muss mit der Lupe suchen, um etwas über Sweeneys 400-Dollar-Steuerplan zu lesen. Im Wall Street Journal hieß es kürzlich, die Republikaner hätten mit Hilfe ihrer Geldgeber beim Kampf um Bushs Steuerreform "die größte PR-Kampagne ihrer Geschichte" gestartet. Da mag man die "optimistischen" Linksaktivisten als naiv verspotten, aber eine bessere Opposition gibt es gerade nicht.

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