Henry Kissinger wird 100: Realpolitiker, der die Moral des Pragmatismus schätzte
Zeitgeschichte Hang zum Kriminellen: Henry Kissinger hofiert das Folterregime in Argentinien, weil es US-Interessen in Lateinamerika dient. Der als Staatsmann verehrte, skrupellose Politiker wird nun 100 Jahre alt
Am 10. Juni 1976 zeigte sich US-Außenminister Henry Kissinger wohlwollend. „Wir haben die Ereignisse in Argentinien genau verfolgt“, versicherte er seinem Amtskollegen, Admiral César Augusto Guzzetti von der argentinischen Militärjunta. „Wir wünschen der neuen Regierung alles Gute“, so Kissinger. Zu diesem Zeitpunkt lag der Staatsstreich, mit dem sich in Buenos Aires Obristen die Macht einverleibt hatten, drei Monate zurück. Man werde alles tun, damit diese Regierung Erfolg habe, versprach Kissinger. Je schneller, umso besser. Dabei häuften sich Berichte über die exemplarische Brutalität dieses Regimes, worüber Kissingers Ministerium Bescheid wusste. Robert Hill, US-Botschafter in Buenos Aires, sprach die Sache im Septemb
ember 1976 gegenüber Außenminister Guzzetti an. „Wir sind der Ansicht, dass Morde an Priestern und der Umstand, dass 47 Leichen auf die Straße geworfen werden an einem Tag, einer schnellen Terrorismus-Bekämpfung“ nicht dienten. Guzzetti entgegnete, er habe nach seinem Treffen mit Kissinger den Eindruck gewonnen, die Hauptbesorgnis der USA gelte nicht den Menschenrechten, sondern dass die Regierung Argentiniens „schnell fertig“ werde mit dem linken Terrorismus.Diese Zitate, dazu weitere Informationen über einst Geheimes und Vertrauliches aus dieser Zeit, findet man in Online-Dossiers des Geschichtsforschungsinstituts National Security Archive in Washington (nsarchive.gwu.edu). Aussagen und Schriftstücke, deren Urheber gewiss nicht erwartet haben, dies könnte einmal publik werden. Manches an dem „deklassifizierten Material“ zu Argentinien verdankt man der Regierung von Barack Obama. Der demokratische Präsident reiste im Frühjahr 2016 nach Buenos Aires, 40 Jahre nach dem Putsch. Die USA würden Dokumente freigeben aus dieser Zeit, ließ er wissen. Die US-Regierung habe sich bei Argentinien „zu langsam für Menschenrechte ausgesprochen“. Obama besuchte das Mahnmal im Parque de la Memoria in Buenos Aires, wo man die Namen von mehr als 20.000 Menschen lesen kann, die von der Militärdiktatur ermordet wurden. Zugleich wird auf das Schicksal Tausender verwiesen, die als verschollen gelten.Anfang der 1970er Jahre standen aus Sicht US-amerikanischer Macht nicht nur das Abwickeln der Kriege in Indochina, die Annäherung an das kommunistische China und Abrüstungsbemühungen mit der Sowjetunion auf dem strategischen Plan. Es war auch die Zeit, um Militärregierungen in Lateinamerika zu unterstützen, die sich unsäglicher Grausamkeiten bedienten, um zu herrschen. Der Kommunismus im Hinterhof musste gestoppt werden. Henry Kissinger, Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister für die Republikaner Richard Nixon (im Amt 1969 – 1974) und Gerald Ford (1974 – 1977), nahm sich dessen an. Auch Chile galt als Problemfall. Am 4. September 1970 hatte dort eine Mehrheit den sozialistischen Kandidaten Salvador Allende zum Präsidenten gewählt. Etwa eine Woche später telefonierten Kissinger und CIA-Direktor Richard Helms. „Wir werden Chile nicht verkommen lassen“ (go down the drain), sagte Kissinger. „Ich bin bei Ihnen“, so Helms. Präsident Nixon gab Weisung, Chiles Wirtschaft „zum Schreien“ zu bringen.Am 11. September 1973 putschte in Santiago das Militär unter General Augusto Pinochet. Kissinger sagte diesem Diktator drei Jahre und Hunderte von Folteropfern später: „Wir wollen helfen und Sie nicht untergraben.“ Pinochet habe „dem Westen einen großen Dienst erwiesen“ mit seinem Staatsstreich. In einem Memorandum für Nixon hatte Kissinger im November 1970 das „Chile-Dilemma“ auf den Punkt gebracht. Allende sei rechtmäßig gewählt worden, er führe die „erste marxistische Regierung, die jemals durch freie Wahlen an die Macht gekommen ist“. Das werde zweifellos einen Einfluss haben, „möglicherweise einen Präzedenzwert für andere Teile der Welt“. Kissinger warnte vor einem „beträchtlichen Effekt auf das Gleichgewicht der Welt und unsere Position“.Mehr als vier Jahrzehnte später im November 2015: Kanzlerin Angela Merkel ist anwesend, Hamburgs SPD-Bürgermeister Olaf Scholz und was sonst noch Rang und Namen hat in der Bundesrepublik. Es gibt den Staatsakt zu Ehren des verstorbenen Ex-Kanzlers Helmut Schmidt. Einer der Redner ist Henry Kissinger. Er spricht auf Deutsch über seinen langjährigen Freund. Die Freundschaft sei tief gewesen, obwohl man nie zum ‚„Du“ übergegangen sei. Schmidts Überzeugungen hätten dessen Handeln bestimmt. „Politik ohne Gewissen tendiert zum Kriminellen“, habe der erklärt, teilt Kissinger mit. Und weiter: Er selbst sehe Politik „als pragmatisches Handeln im Dienste moralischer Ziele“. Keiner schreit auf im Gedenken an die im Geheimgefängnis Escuela Superior de Mecánica de la Armada in Buenos Aires zu Tode Gefolterten. Oder in Erinnerung an den Indochina-Krieg, bei dem sich Kissinger persönlich in die Planung der Bombenangriffe auf Kambodscha eingeschaltet hatte, die 1970 zu Zehntausenden von Opfern führten. Das Wochenblatt Die Zeit druckt Kissingers Ansprache vollständig. Merkel begrüßt Kissinger als „Sehr geehrter, lieber Henry Kissinger“. 2020 erhält sie den Henry-A.-Kissinger-Preis der American Academy in Berlin, Frank-Walter Steinmeier bekommt ihn 2022.Am 27. Mai wird der im fränkischen Fürth geborene und als Teenager mit seinen Eltern vor den Nazis in die USA geflohene Heinz Alfred Kissinger 100 Jahre alt. Er hat in der neuen Heimat einen Höhenflug in den Regierungen von Nixon und Ford erlebt. Seitdem bekleidete Kissinger kein hohes Amt mehr. Doch er verstand es, sich selbst zu vermarkten mit Vorträgen, Büchern und Interviews als Elder Statesman, dem es um eine irgendwie liberale internationale Ordnung gehe, die letztendlich nicht nur den USA diene. An Selbstbewusstsein fehlte es dem Mann mit dem deutschen Akzent nie: In einem Interview zum 100. Geburtstag fragte ihn der Korrespondent des Fernsehsenders CBS, ob wohl der russische Präsident Wladimir Putin einen Anruf von ihm annehmen würde? Vermutlich ja, meinte Kissinger. Und der chinesische Staatschef Xi Jinping? „Eine gute Chance.“Kissingers Auftritt 2015 in Hamburg zeugte von selektiver Erinnerung. Die Leitkultur der westlichen Welt denkt bei ihm vorzugsweise an seine bedeutenden Rolle beim Aufbau von Beziehungen zu China noch zu Lebzeiten Mao Zedongs und beim Aushandeln der SALT-Verträge zur atomaren Rüstungskontrolle mit der Sowjetunion. Das andere wird in Kauf genommen, wohl mit dem Hintergedanken, dass Henry Kissinger ein guter Diener der Mächtigen und Einflussreichen war. Es herrschte in den 1970er Jahren ein westlicher Konsens, dass man den Kommunismus in Lateinamerika zerschlagen müsse. Und in den 1960er Jahren, dass Bomben, Napalm und das Entlaubungsmittel Agent Orange in Südvietnam nötig seien, um die amerikanische Macht in Südostasien zu beweisen. 1973 erhielt Kissinger den Friedensnobelpreis für seine Verhandlungen zur Beendigung des Vietnamkrieges, obwohl er mit der Regierung Nixon diesen Militäreinsatz zunächst vorangetrieben hatte. Kissingers nordvietnamesischer Verhandlungspartner Le Duc Tho sollte ebenfalls geehrt werden. Er lehnte ab.Im Juni 1978 reiste Privatmann und Fussballfan Kissinger mit Ehefrau und Sohn nach Argentinien zur Weltmeisterschaft. Das Endspiel fand im Estadio Monumental statt unweit der Folterzellen in der Escuela Superior de Mecánica. Gleich nach seiner Ankunft traf Kissinger zum Mittagessen mit Staatschef General Jorge Videla zusammen. Menschenrechte seien kurz zur Sprache gekommen, berichtete US-Botschafter Raul Castro seinem Chef Cyrus Vance, Außenminister des demokratischen Präsidenten Jimmy Carter. Kissinger habe „Argentiniens Maßnahmen“ hoch gelobt, um „Terrorismus auszulöschen“, und bedauert, dass die US-Bevölkerung Argentiniens Geschichte nicht richtig verstehe. Viele Amerikaner würden denken, „Argentina sei ein Erfrischungsgetränk“.