1984 Ronald Reagan sagt bei der Sprechprobe für eine Hörfunkrede, er habe gerade die Bombardierung der UdSSR befohlen. Warum wollte der US-Präsident den Cowboy geben?
Reagan bei einer Wahlkampfveranstaltung im November 1984
Bild: Don Rypka / AFP / Getty Images
Es geschah am 11. August. Der Kalte Krieg steckte in den Köpfen. Die Sowjetunion, die DDR, die Tschechoslowakei und ein Dutzend weitere Staaten boykottierten gerade die in Los Angeles laufenden Olympischen Sommerspiele, Revanche für westliche Abstinenz bei Olympia in Moskau vier Jahre zuvor. Der Präsident hieß 1984 Ronald Reagan (73), ein altgedienter Schauspieler und Werbedarsteller (unter anderem für Chesterfield-Zigaretten und das Waschmittel Borateem), Vortragsredner für den Rüstungskonzern General Electric und seit den 60er Jahren republikanischer Politiker vom rechten Parteiflügel.
Reagan riss häufig und gern Witze über die Sowjetunion. Zum Beispiel: Kommt ein Sowjetbürger zum Geheimdienst KGB. „Mein Papagei ist entflogen.
tflogen.“ – „Warum melden Sie das?“ Sagt der Bürger: „Ich will betonen, dass der Papagei seine Sprüche nicht von mir gelernt hat.“ Oder: Ein Sowjetbürger kauft ein Auto, trotz der Lieferfrist von zehn Jahren. Fragt der Kunde: „Soll ich den Wagen vormittags oder nachmittags abholen?“ Der Autohändler: „Warum ist das jetzt schon wichtig?“ Der Käufer: „Weil ich vormittags schon einen Termin mit dem Klempner habe.“An jenem 11. August 1984 scherzt der Präsident beim Mikrofontest für eine Rundfunkansprache über einen nuklearen Erstschlag: „Meine Mitbürger, ich teile Ihnen mit Freude mit, dass ich heute ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für immer für ungesetzlich erklärt. In fünf Minuten beginnen wir mit dem Bombardieren.“Reagan ließ hochrüsten. Real war der Kalte Krieg in Afghanistan und Mittelamerika. Nicht einmal ein Jahr vor der makabren Ansage eines Bombardements hatte ein sowjetischer Abfangjäger eine südkoreanische Verkehrsmaschine mit 269 Personen an Bord nach Überfliegen der Halbinsel Kamtschatka abgeschossen, Hunderte Kilometer vom vorgesehenen Kurs der KAL 007 entfernt. Die Sowjets handelten augenscheinlich in der Annahme, ein feindliches Flugzeug teste die Luftabwehr. Reagan verurteilte den „terroristischen Akt“.Im November 1983 stationierten die USA die ersten Pershing-II-Raketen im schwäbischen Mutlangen, mit der Zustimmung von 286 Bundestagsabgeordneten und gegen das Votum von 226. In der UdSSR, sagte der CIA-Historiker Benjamin Fischer, habe sich in diesem Herbst volle Kriegspanik breitgemacht.Die Friedensbewegung in den USA und Europa warnte seinerzeit vor einer „Enthauptungskapazität“: Einerseits gab es Erstschlagwaffen wie die Pershing II mit ihrer kurzen Flugzeit nach Moskau, andererseits die von Reagan in seiner Star-Wars-Rede vom März 1983 entworfene „Strategische Verteidigungsinitiative“ (SDI), die einen Schutzschild gegen sowjetische Interkontinentalraketen abgeben sollte. Statements der Männer rings um Reagan schockierten. Verteidigungsminister Caspar Weinbergers Pläne gingen davon aus, ein Atomkrieg könne begrenzt werden. Und T. K. Jones, im Pentagon zuständig für Forschung und Entwicklung strategischer und taktischer Kernwaffen, versicherte gegenüber der Los Angeles Times, die Bevölkerung könne einen Atomkrieg überleben, „wenn wir genug Schaufeln haben“. Ein jeder solle halt ein Loch graben, ein paar Türen drauflegen und auf die Türen einen Haufen Erde. „Der Erdboden macht den Unterschied.“Im Juni 1984 gelang es US-Militärs erstmals, den Sprengkopf einer US-Interkontinentalrakete im Flug zu zerstören. Bei allen wissenschaftlichen Problemen, die ein „Krieg der Sterne“ aufwarf, Reagans Leute gingen mit viel Zuversicht zu Werke. Moskau könne nicht mithalten beim Rüstungswettlauf, hieß es. Das US-Hochrüstungsprogramm – MX-Interkontinentalraketen, B-1-Langstreckenbomber und eben Star Wars – stürzte den US-Staat tief in die Verschuldung, doch die Mittel wurden lockergemacht.Moskau agierte alles andere als dynamisch: Leonid Breschnew, ab 1964 Parteichef, starb Ende 1982 nach Jahren des physischen Verfalls, Nachfolger Juri Andropow im Februar 1984 nach nur 15 Monaten im Amt und dessen Nachfolger Konstantin Tschernenko nach 13 Monaten: Der Gesundheitszustand der alten Männer war Symbol für den Zustand der UdSSR. Reagan, obwohl selbst nicht mehr der Jüngste, wurde von vielen US-Amerikanern gefeiert. „Es ist wieder Morgen in Amerika“, verkündet ein Fernsehspot während des Wahlkampfs für Reagans Wiederwahl im November 1984. Die Sonne geht auf, der Himmel ist blau, die Nationalflagge weht im Wind. Da wird vielen Amerikanern warm ums Herz. Sie erteilen dem demokratischen Anwärter Walter Mondale, einst Vizepräsident unter Jimmy Carter, eine Abfuhr: Reagan erhält 59 Prozent und Mehrheiten in allen Bundesstaaten außer in Mondales Heimat Minnesota.Ein wunderschöner Tag, vermerkte Reagan in seinem Tagebuch über den Wahltag am 4. November, als ein Viertel der bis dahin demokratischen Wähler für ihn gestimmt hatte. Reagan müsse der „netteste Präsident sein“, der jemals Gewerkschaften zerschlagen, die Milchrationen bei der Schulspeisung reduziert und „Familien, die Sozialhilfe brauchen, dazu gezwungen hat, zuerst alle Haushaltsgegenstände über 1.000 Dollar zu verkaufen“, hieß es in einem kritischen Kommentar zur Wahl. Unter Reagan wurde der Einkommensteuersatz für die Bestverdiener von 70 auf 28 Prozent gedrückt.Dabei hatte noch im Juni 1982 die amerikanische Friedensbewegung eine Million Menschen mobilisiert, die im New Yorker Central Park für ein Einfrieren der Atomwaffenarsenale demonstrierten. Doch Ronald Reagan bot der Nation scheinbar mehr als die Pazifisten: ein muskulöses Amerika in einer Welt, die aufgeteilt ist in Gut und Böse; das Gefühl, etwas Besonderes zu sein; und traditionelle Werte, nach denen sich viele Bürger der Vereinigten Staaten sehnten, die ahnten, ihr weißes Amerika mit dem klar definierten gesellschaftlichen Rollenspiel werde sich ändern. Außerdem kam Reagans Charme an. Bei einer Fernsehdebatte mit Walter Mondale sagte er: „Ich werde das Alter in dieser Kampagne nicht zum Thema machen. Ich werde die Jugend und Unerfahrenheit meines Rivalen nicht politisch ausschlachten.“Die sowjetische Führung reagierte verhalten auf Ronald Reagans „Bombardieren in fünf Minuten“. Die Nachrichtenagentur TASS erklärte: „Wir sind autorisiert zu melden, dass die Sowjetunion die Beleidigung durch den US-Präsidenten bedauert.“ Der Spruch gefährde den Frieden. Die US-Regierung machte sich keine großen Sorgen. „Wer den Präsidenten als Kriegstreiber sieht, fühlt sich bestätigt“, sagte ein anonymer Regierungsmitarbeiter in der New York Times. „Die meisten Leute denken das aber nicht. Sie wissen, das war nur eine unüberlegte Bemerkung.“ Die beiden Reagan-Söhne sahen ihren Vater unterschiedlich. Michael Reagan, der ältere, konservativer Publizist, wagte in einem Buch die These, dieser Präsident habe sich ganz bewusst als schießwütiger Cowboy präsentiert, um die Sowjets unter Druck zu setzen. Der jüngere Sohn Ron erwähnte Alzheimer, eine Krankheit, die 1994 offiziell bei Reagan diagnostiziert wurde. Er schrieb in einem Buch über seinen Vater, er habe schon viel früher bemerkt, dass etwas nicht stimme. Nämlich schon 1984.Drei Jahre nach Reagans Tod 2004 ließ die Ronald Reagan Presidential Library Foundation Auszüge aus seinen handschriftlichen Tagebüchern veröffentlichte, 700 Seiten. Der 11. August 1984 fehlte. Tiefgang findet man wenig, aber einen unerschütterlich festen und einfachen Glauben an die Exklusivität der USA und das Übel des Kommunismus. Reagan war schließlich ein Staatschef, für den die Sowjetunion das Reich das Bösen verkörperte, die Sandinisten in Nicaragua eine Bedrohung der USA und die afghanischen Mudschaheddin Freiheitskämpfer waren. Die Bibel galt ihm als Buch, das die Apokalypse vorhersage, deren Anzeichen man sehen könne. Und er, Ronald Reagan selbst, könne helfen, den Marxismus-Leninismus auf den Aschehaufen der Geschichte zu werfen.
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