"Jagdsaison auf schwarze Jungen“, so lautete die Überschrift eines Kommentars des schwarzen Journalisten Gary Younge zum Freispruch für George Zimmerman. In einer Talkshow versuchte der Soziologe Michael Eric Dyson seinen weißen Landsleuten zu erklären, wie Afro-Amerikaner das Urteil sehen: „Ihr wisst, was ihr nach Nine-Eleven gefühlt habt? So fühlen wir uns jetzt.“ Die USA sehen nun einer neuerlichen Debatte über Post-Rassismus entgegen; dafür werden sie sich mit ihren ungelösten Problemen konfrontieren müssen.
Rassenunruhen würden drohen, hieß es schon vor dem Urteil im Prozess um den gewaltsamen Tod des afro-amerikanischen Teenagers Trayvon Martin. Dass es manche Kommentatoren Afro-Amerikanern offenbar nicht zutrauten, ihre Empörung intelligent und gewaltfrei zum Ausdruck bringen, spricht Bände für den Zustand des Landes. Trayvon Martins Eltern, Sybrina Fulton und Tracy Martin, waren bei der Urteilsverkündung in Sanford nicht im Gerichtssaal. Ihr Rechtsberater Benjamin Crump erklärte, „alle Amerikaner“ müssten nun „tief in ihrem Herzen prüfen, wie wir als eine Gesellschaft etwas von dieser Tragödie lernen können“. Ein „unbewaffneter 17-jähriger Junge ist getötet worden“. Der Täter bekam nach dem Freispruch sogar seine halbautomatische Kel-Tec-PF-9-Pistole zurück.
Wer das vom mehreren TV-Sendern übertragene Verfahren verfolgt hatte, konnte von diesem Freispruch nicht überrascht sein. Die sechs Geschworenen waren mit einer effektiven Verteidigung konfrontiert: Die Staatsanwaltschaft konnte ihre Mord- und später Totschlagsanklage einfach nicht beweisen. Es gab keine Augenzeugen für die letzten Minuten im Leben von Trayvon Martin – dafür aber starke Indizien für einen Kampf zwischen ihm und Zimmerman. Martins und auch Zimmermans Eltern sagten aus, sie könnten aufgezeichnete Hilferufe als die Schreie ihres Sohnes erkennen.
Im Zweifel für den Angeklagten. Zimmermans Verteidiger behaupteten, dass er um sein Leben gefürchtet und in Notwehr geschossen habe. Wer will das Gegenteil beweisen? Nach dem Gesetz in Florida reicht eine Notwehrbehauptung. Zimmerman hatte einen Waffenschein. Was zuvor passierte, dass nämlich der selbsternannte Nachbarschaftswächter der Jäger war und nicht der Gejagte, als er dem ihm verdächtig erscheinenden schwarzen Jugendlichen an einem regnerischen Abend nachstellte – das bedeutete bei der Urteilsfindung nicht viel.
Man kann über Zimmermans Motive. spekulieren. Er sei kein Rassist, verteidigte ihn seine Familie. Seine Mutter komme aus Peru. Vor Gericht hat Zimmerman nicht ausgesagt. In einem Interview mit dem Sender Fox legte er vor einem Jahr einen bemerkenswerten Auftritt hin. Er würde heute genauso handeln wie in dieser Schicksalsnacht. Trayvon habe ihm ins Gesicht geschlagen. Er habe geschossen, als der seine Pistole greifen wollte, so Zimmerman. Es tue ihm alles leid, sei aber „Gottes Plan“ gewesen. Zimmerman bete wohl zu einem anderen Gott, meinte Tracy Martin.
Eine misstrauische Nation
Im sozialen Kontext gesehen: Zimmerman repräsentiert das dominierende Denken, das einen jungen schwarzen Mann zuallererst für gefährlich hält. Dass Zimmerman ein Latino ist und kein Weißer, spielt keine große Rolle. Racial profiling nennt man das, wenn Hautfarbe entscheidet, ob jemand mit Argwohn betrachtet wird. Und die Nation ist misstrauisch. Es gibt auch ein Profiling nach Religionszugehörigkeit oder Telefonaten, die von der NSA gespeichert werden. In New York hat die Polizei 2011 laut der Civil Liberties Union 684.000 Personen beim Stop-and-Frisk-Program angehalten und durchsucht. Weit überproportional junge Afro-Amerikaner: 168.126. Diese Zahl war sogar noch höher als die der 158.406 jungen Afro-Amerikaner, die in New York leben.
Zimmerman trug eine Schusswaffe wie Millionen Amerikaner, die meinen, sich unilateral beschützen zu müssen. Die nach dem Schulmassaker in Newtown losgetretene, heute festgefahrene Debatte um Schusswaffenkontrolle zeigt, dass die Gesellschaft bereit ist, viel Blutvergießen hinzunehmen. Der Schusswaffenhersteller Kel-Tec aus Florida freut sich auf seiner Webseite über eine gute Geschäftslage. In den Spiegel schauen ist nicht angenehm. Nur wenige Weiße können sagen, dass sie wirklich keine Vorurteile in ihren Herzen hegen. Und für Weiße und Afro-Amerikaner stellt sich die unangenehme Frage, wie es sein kann, dass in den USA nach Angaben des Verbandes Childrens Defense Fund im Jahr 2010 1.205 afro-amerikanische Kinder und Teenager zu Tode geschossen wurden – die meisten in Situationen, die ganz anders aussahen als der Todesschuss des Nachbarschaftswächters auf einen Teenager auf dem Heimweg vom Einkaufen.
Wenn jemand frage, warum Afro-Amerikaner mit so viel Wut auf den Freispruch reagieren, kommentierte der schwarze Journalist Eugene Robinson: „Wir wissen, wie sich unsere Söhne fürchten werden, wenn sie allein auf dem Heimweg an einem regnerischen Abend bemerken, dass ihnen jemand folgt. Wir wissen, wie sehr sie zwischen der Angst eines Kindes und der unreifen kindlichen Vorstellung von männlichem Verhalten hin- und hergerissen sein werden.“ Schwarze Jungen in den USA haben offenbar keinen einfachen Anspruch auf Kindheit.
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