Mehr als acht Monate nach "9-11", wie die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon inzwischen heißen, müssen die Gefolgsleute des amerikanischen Präsidenten Sandsäcke füllen. Denn George W. Bush, seit 9-11 abgeschirmt von der scheinbar undurchdringlichen Mauer des Patriotismus, hat nasse Schuhe bekommen. Die Enthüllungen in der amerikanischen Presse (Berichte im Spiegel und anderen ausländischen Medien werden in den USA ignoriert), machen dem Weißen Haus zu schaffen: Es habe schon Monate vor 9-11 geheimdienstliche Warnungen vor einem Al-Qaida-Anschlag in den USA gegeben. "Etwas wirklich Spektakuläres" drohe, warnte der Anti-Terrorismus-Chef des Nationalen Sicherheitsrates laut Washington Post Anfang Juli 2001. "Bin Laden
2001. "Bin Laden entschlossen, in den USA loszuschlagen", so ein Memo in Bushs morgendlichem Sicherheitsbriefing am 6. August. Jetzt kläffen selbst die Schoßhündchen. Journalisten, Leitartikler, Politiker, die sich im "Krieg gegen den Terrorismus" zur festen Allianz zusammengetan hatten, stellen Fragen seit "5-14" (am 14. Mai berichtete der Sender CBS als erster von den lange verschwiegenen Frühwarnungen). Was Bush denn wann gewusst habe, warum man das Volk vor 9-11 nicht alarmiert habe, warum die Öffentlichkeit jetzt nur häppchenweise informiert werde? Manche Presseleute üben Selbstkritik. Er habe, weil es nicht als unpatriotisch gelten wolle, bekannte Dan Rather, Nachrichtenmoderator bei CBS (in einem BBC-Interview), scharfe Fragen in Richtung Weißes Haus vermieden. Das ist der Rather, der ein paar Tage nach dem Anschlag verkündet hatte, dass er im Krieg gegen den Terror hingehe, wo der Präsident "mich hinschickt". Gemeint war nicht der Präsident von CBS, sondern der USA. Jonathan Steele, Korrespondent des britischen Guardian, schrieb vor ein paar Wochen, dass er sich in New York fast so vorkomme wie in Moskau zu Breschnews Zeiten. Es gebe kaum abweichende Meinungen von der offiziellen. Zum Thema War on Terror, dem geplanten Krieg gegen den Irak und zum Konflikt Israel-Palästina sagten viele Leute nicht mehr laut, was sie dächten, höchstens noch gegenüber Freunden oder im Familienkreis. Das hat sich in der vergangenen Woche leicht verändert. Die 9-11-Frühwarn-Enthüllungen - weiß man doch inzwischen selbst von dem alarmierenden Hinweis eines FBI-Beamten im Juli 2001 auf mutmaßliche arabische Terroristen in Flugschulen der USA - ermöglichen nun Kritik am Präsidenten im Namen des Patriotismus. Eben weil wir Amerika schützen wollen, wollen wir wissen, was wirklich gelaufen ist, so der Tenor der Fragen jetzt. Das Sandsackfüllen funktioniert nur begrenzt. Kaum hat man ein Loch gestopft, tröpfelt es woanders. Kaum beschwichtigt Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, die Warnungen seien nur "allgemein" gewesen, man habe sich den Crash eines Flugzeugs in das WTC nicht vorstellen können, taucht ein Zeitungsbericht auf: der National Intelligence Council - das Gremium ist der CIA zugeordnet - habe schon 1999 gewarnt, Osama bin Ladens Terroristen könnten ein sprengstoffbeladenes Flugzeug in das CIA-Hauptquartier oder das Pentagon stürzen lassen. Zur Notwehr schwingt Vizepräsident Cheney nun die blau-weiß-rote Keule: Die Kritik von Politikern der Demokratischen Partei "zu Kriegszeiten" sei "völlig unverantwortlich", und setzt noch eins drauf: Es drohe den USA wieder ein Al-Qaida-Anschlag. Er sei sich "fast sicher", der "Anschlag könnte morgen kommen, nächste Woche oder nächstes Jahr". Also: Amerika ist gewarnt. Soll hinterher keiner kommen und sich beschweren. 2002 ist Wahljahr in den USA. Im November werden das Repräsentantenhaus und ein Drittel der Senatoren neu gewählt. In der ersten Kammer haben derzeit die Republikaner eine knappe Mehrheit, im Senat die Demokraten. Der Wahlausgang ist ungewiss. Vor 5-14 wiegten sich viele Republikaner in relativer Sicherheit, sie könnten in der Bugwelle der Popularität des Commander in Chief zum Sieg schwimmen. Und viele Demokraten hatten Angst, den Oberbefehlshaber zu kritisieren. Wahlprognosen sollte man nicht riskieren. Die Republikaner mit ihrem Killerinstinkt (siehe Bushs Wahl"sieg" in Florida) haben viel Erfahrung im Nahkampf. Nach einer Umfrage des Rundfunksenders National Public Radio vom 20. Mai kann es allerdings gut sein, dass die Wählerinnen und Wähler ihre Entscheidung nicht von 9-11 abhängig machen, sondern von ihren Sorgen über Gesundheitsfürsorge, Rentenversicherung und andere "weniger spektakuläre" Anliegen. Da müssen die Demokraten aber noch unter Beweis stellen, dass sie wirklich "anders" sind Das politische Washington debattiert nun, wie das zu Tage tretende Versagen der Geheimdienste, des Sicherheitsapparates und vielleicht sogar der Politiker vor 9-11 untersucht werden soll. Irgendeinen Ausschuss wollen alle, und das Weiße Haus gibt sich kooperativ. Es kollidieren freilich die Interessen: Die einen halten sich am amerikanischen Unversehrbarkeitsmythos fest und tun so, als hätten die USA als Weltsupermacht die Anschläge der paar Araber verhindern können, wenn man nur auf die geheimdienstlichen Erkenntnisse reagiert hätte. Die anderen fallen zurück auf Bushs kurzsichtige Aussage vom Dezember 2001: "Amerika hat sich so einen Angriff vor dem 11. September nicht einmal im Traum vorstellen können". Einer sollte auf jeden Fall in sich gehen: Justizminister Ashcroft, der seinen polizeistaatlichen Patriot Act zum Erweitern der Befugnisse des FBI und anderer Organe mit der Warnung gerechtfertig hatte: Der Staat brauche "neue Werkzeuge", um sich vor "unerwarteten" Terroranschlägen zu schützen.