Kurz vor Mitternacht

USA Wieder einmal wird in Washington die Vorstellung bemüht, man könne einen Nuklearkrieg führen, kontrollieren und irgendwie gewinnen
Ausgabe 07/2018
Der Zeiger liegt scharf in der Kurve: die „Weltuntergangsuhr“ steht auf zwei Minuten vor Mitternacht
Der Zeiger liegt scharf in der Kurve: die „Weltuntergangsuhr“ steht auf zwei Minuten vor Mitternacht

Foto: Brendan Smialowski/AFP/Getty Images

Ohne Atomkrieg hat die Menschheit den Kalten Krieg überstanden. Das war nicht selbstverständlich, und Vergangenheit ist keine Garantie für die Zukunft. In den USA denken Militärs und Politiker laut über eine aggressivere atomare Kriegsplanung nach, über „kleine“ Nuklearwaffeneinsätze. Das Wissenschaftlermagazin Bulletin of the Atomic Scientists hat daraufhin im Januar die Zeiger der „Weltuntergangsuhr“ auf zwei Minuten vor Mitternacht gestellt.

Präsident Trump meldet sich zuletzt häufiger über Militärisches zu Wort. Der Mann mit dem großen Knopf hätte gern eine neue Nuklearpolitik, flexibel einsetzbare Atomwaffen, auch eine Militärparade. Es lässt sich spotten über den Feldherren, der sich wegen eines Fersensporns vom Dienst in Vietnam befreien ließ. Doch Trumps Passion für Paraden, viel kolportiert in den Medien, ist nicht die wirklich wichtige Nachricht. Die ergibt sich aus den offiziellen Überlegungen zur Atompolitik im neuen Nuclear Posture Review, aus denen klar hervorgeht, die Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen wird gesenkt.

Ihr rüstet, wir auch

Das Verteidigungsministerium hat diesen vom Präsidenten bestellten „Atomwaffenstatusbericht“ Anfang Februar nach einjährigen Beratungen vorgestellt. Der Report – richtungsweisend für die Nuklearstrategie und -rüstung – wird periodisch von führenden Mitarbeitern im Pentagon wie dem Außen- und Energieministerium erstellt. Da schreibt der professionelle Sicherheitsapparat. Kriegsgefahr kommt nicht nur vom impulsiven Mann im Weißen Haus, der die rund hundert Seiten Nuclear Posture Review gar nicht gelesen haben dürfte.

Der Statusbericht für 2018 beschreibt eine zunehmend gefährliche Welt mit Rivalitäten zwischen den großen Mächten. Die USA stünden vor Herausforderungen durch die von „russischen, chinesischen und anderen Staaten betriebene strategische Planung, durch Programme und Kapazitäten, besonders nukleare“. Russland werte die Kernwaffen bei seinen Militärressourcen weiter auf, China strebe nach zusätzlichen Atomkapazitäten. Regionale Akteure wie Nordkorea würden die USA bedrohen. Die im US-Bericht gegebene Antwort ist eine militärische. Ihr rüstet, wir rüsten auch, nur mehr. Kernwaffeneinsatz wird nicht nur als Antwort auf einen nuklearen Angriff in Erwägung gezogen, sondern auch als Maßnahme gegen „bedeutsame nicht nukleare strategische Angriffe“, auch solche auf die Infrastruktur. Man müsse künftig „planen, trainieren und üben, um die US-Nuklearstreitkräfte und die konventionellen zu integrieren“, heißt es. Die Pentagon-Website www.defense.gov liefert Übersetzungen des Posture Review ins Russische wie Chinesische.

Der gleichnamige Report von 2010 hatte festgelegt, die USA würden auf Atomwaffen gegen Nicht-Kernwaffenstaaten verzichten. Nukleare Abrüstung galt als erstrebenswert. Das neue Planungspapier sieht das anders, es plädiert für Stationierung und Bereithaltung von kleineren und daher mutmaßlich leichter einsetzbaren Kernwaffen. Die Rede ist von atomaren Marschflugkörpern auf U-Booten und ballistischen Raketen mit niedriger Sprengkraft, ebenfalls auf U-Booten.

US-Verteidigungsminister James Mattis und seine Delegation, darunter der Nationale Sicherheitsberater H.R. McMaster, werden bei der Münchner Sicherheitskonferenz gewiss zu erklären versuchen, warum dieser Wandel notwendig sein soll. Eventuell meldet sich jemand, der sagt: „Excuse me, I am not convinced“, wie 2003 der damalige Außenminister Joschka Fischer. Doch Nuklearpolitik betreiben die USA unilateral, was den Wunsch einschließt, die Verbündeten sollten ihre Verteidigungsetats nach oben treiben.

Mattis versicherte jüngst bei einer Pressekonferenz, es gehe ihm um Abschreckung. „Manche Nationen, besonders eine“, die er aber nicht nennen wollte, könnten die US-Abschreckung nicht ernst nehmen und erwarten, dass – „wenn sie in einem konventionellen Kampf eine (Atom)bombe mit geringer Sprengkraft einsetzen – wir nicht mit einer Bombe großer Sprengkraft antworten werden. Die US-Atomwaffen mit geringer Sprengkraft sollten signalisieren: „Verrechnet euch nicht!“ Der US-Kongress müsste freilich dem Steuerzahler tief in die Taschen greifen, um diese Pläne zu finanzieren.

Die Begeisterung über Trumps Idee vom Militärdefilee hält sich in Grenzen. Stadträte in Washington äußern Bedenken über Straßenschäden durch schwere Fahrzeuge. Große Paraden gibt es gewöhnlich, wenn das Ende eines Krieges gefeiert wird. „Ich glaube nicht, dass Derartiges ansteht“, sagt Hauptstadt-Bürgermeisterin Muriel Bowser. Doch Trump hat manchmal ein gutes Gespür für die Landsleute und deren Verehrung für die Army. Die Parade solle ein Event sein, bei dem „die gesamte Nation zusammenkommt und unsere Streitkräfte ehren kann“, erläutert Pressesprecherin Sarah Sanders. Es wäre politisch ganz schön schwierig, wollte sich die Opposition gegen dieses Unterfangen stellen.

Letztmals rollten 1991 Panzer bei der Feier zum Sieg im Golfkrieg durch Washington, als die Operation Wüstensturmabgeschlossen war. Etwa 8.000 Soldaten marschierten seinerzeit hinter dem kommandierenden General Norman Schwarzkopf. Stealth-Kampfflieger überflogen die Stadt. „Ein großartiger Tag“, sagte US-Präsident George H. W. Bush.

John F. Kennedy feierte 1961 seine Amtseinführung mit Raketen vom Typ Pershing I, Nike Hercules und Nike Zeus beim Umzug. Sein Vorgänger Dwight Eisenhower ließ bei seiner Vereidigung im Januar 1953 eine M65 Atomic Canon auffahren, genannt „Atomic Annie“, ein atomwaffenfähiges Artilleriegeschütz. Vier Monate danach schoss „Atomic Annie“ beim Nukleartest in der Nevada-Wüste ein atomares Geschoss rund zehn Kilometer weit. Die Sprengkraft war ungefähr so gewaltig wie die der Atombombe, die Hiroshima zerstörte.

Die M65-Geschütze wurden in den 1950er Jahren in Westdeutschland stationiert. Sie seien „durch die Wälder gezerrt worden, sodass die Sowjets ihre Standorte nicht erraten konnten“, schreibt die Website globalsecurity.org. Schon damals gingen manche Kriegsplaner offenbar von der Vorstellung aus, man könne einen Atomkrieg führen, kontrollieren und irgendwie gewinnen, eine durchaus aktuelle Fantasie. Ausgemusterte M65-Kanonen stehen heute in diversen US-Militärmuseen.

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