Amerika schaut gegenwärtig in den Spiegel: Wie weit reicht das Selbstverständnis, man sei eine Nation von Einwanderern, in der jeder irgendwann einmal eine Chance kriegt, und Einwandererwellen integriert werden? Bei dieser "Selbstfindung" fallen maßgebende Entscheidungen über die politische Zukunft der Nation.
Wohl eine Million Menschen haben in den zurückliegenden Wochen gegen Pläne konservativer Republikaner demonstriert, die einschlägigen Gesetze zu verschärfen. Illegal Eingewanderte in den USA würden kriminalisiert - karitativ Tätigen, die Illegalen helfen, drohten Haftstrafen, eine Mauer würde an der Grenze zwischen den USA und Mexiko gebaut. Möglicherweise haben die Drohgebärden einiger Republikaner einen schlafenden Giganten geweckt: Vor allem die aus Mittel- und Südamerika stammenden Latinos engagieren sich plötzlich massenhaft in der großen Politik. Latinos haben inzwischen die Afro-Amerikaner als größte Minderheit überholt. Wahlstrategen um Präsident Bush trugen sich mit der Hoffung, die Latinos mehrheitlich zu "ihrer" Minderheit zu machen und so gegen die "Minderheit der Demokraten", die Afro-Amerikaner, zu punkten.
Bei der Debatte verlaufen die Fronten im Zickzack: Besonders in der Republikanischen Partei. Da kollidieren die manchmal nicht so latente Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus mit den demographischen Realitäten (die Weißen werden immer weniger) und mit den Wünschen einer republikanischen Kerngruppe: Den Großunternehmern im Agrargeschäft, in der Bauindustrie, im Dienstleistungssektor. Man braucht die Illegalen, die gezwungenermaßen für wenig Geld und ohne Kündigungsschutz arbeiten. Das Leben in den USA ist nicht vorstellbar ohne die Illegalen: Nach einer Untersuchung des Politikforschungsinstituts Pew Hispanic Research Center in Washington machen Illegale etwa ein Viertel der Arbeiter in der Landwirtschaft aus, 17 Prozent bei Reinigungsfirmen und 14 Prozent auf dem Bau. In den USA, einer Nation mit ungefähr 300 Millionen Einwohnern, leben etwa zwölf Millionen als Illegale, knapp zwei Millionen davon Kinder. Etwa die Hälfte kommt aus Mexiko, ein Viertel aus Mittel- und Südamerika.
Die Demokraten möchten sich gern ins Fäustchen lachen angesichts der internen Spannungen in der Präsidenten-Partei. Doch auch hier wird mit dem Feuer gespielt: Viele Afro-Amerikaner und gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, Kerngruppen der Demokraten, sind nicht begeistert über die Illegalen, die als Bedrohung wahrgenommen werden. Sie sind auch wenig begeistert vom Gastarbeiterkonzept, das prominente Demokraten wie der große Liberale Ted Kennedy vorlegen: Die Immigranten sollten kommen und eine Zeit lang arbeiten dürfen, aber nicht bleiben. John Sweeney, Präsident des Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO, attackiert dieses Modell: Es ermutige Firmen, "gute Jobs" abzubauen und vermehrt "Gastarbeiter" als Saisonkräfte anzuheuern. George Bush hingegen kann sich mit dem Gastarbeitervorschlag anfreunden.
Die Unternehmerlobby für billige Arbeitskräfte jedenfalls ist stark und der Verbraucher an die billigen Erdbeeren und Tomaten gewöhnt, er will nicht wissen, ob Obst und Gemüse von "illegalen Händen" gepflückt werden. Gesetze, nach denen die Beschäftigung Illegaler unter Strafe steht, werden einfach nicht eingehalten - und die Grenze nach Mexiko ist löcherig. Jährlich sterben Dutzende, wenn nicht Hunderte beim illegalen Grenzübertritt im Südwesten der USA. Die Menschen kommen, weil sie zu Hause so gut wie keine Chancen sehen. Denn dank des nordamerikanischen Freihandelsabkommens ist Mais aus Iowa in Mexiko billiger als einheimisches Getreide.
Ob die jetzige Einwanderungsdebatte - der Senat soll in Kürze ein Gesetz beschließen - letztendlich wieder im Sand verläuft, bleibt abzuwarten. Zu groß sind die Widersprüche in der regierenden Partei - zu massiv ist wohl der Widerstand gegen besonders restriktive Einwanderungsgesetze. Vorrangig die katholische Kirche setzt sich für die Latinos ein. Roger Mahoney, der Kardinal von Los Angeles, appellierte an den Kongress, das Gesetz des Repräsentantenhauses zurückzuweisen, vor allem dessen Klausel, dass US-Bürgern bis zu fünf Jahre Haft drohen, wenn sie "Illegalen" helfen. Er würde Priester anweisen, das Gesetz nicht einzuhalten. Notleidenden Immigranten nicht zu helfen verstoße gegen ein "höheres Gesetz". Mahoneys Konsequenz kommt den Republikanern denkbar ungelegen: Schlugen sie doch zuletzt gerade beim Thema Abtreibung manche Schneise in die Reihen der sonst eher den Demokraten zuneigenden Katholiken.
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